An der Schönheit ist nur die Wunde ursprünglich,
die jeder Mensch in sich hütet, einzigartig, für jeden verschieden,
sichtbar oder versteckt, die er wahrt und zu der er sich zurückzieht,
wenn er die Welt für eine vorübergehende, aber tiefe Einsamkeit verlassen will.
Jean Genet

 

Das Innere der Sicht

 

 

Jeder hat vielleicht einmal diesen Kummer, wenn nicht sogar Schrecken verspürt, die Welt und ihre Geschichte in einer unausweichlichen Bewegung befangen zu sehen, die immer weitere Kreise zieht und nur die sichtbaren Erscheinungen der Welt zu immer gröberen Zwecken zu verändern scheint. Diese sichtbare Welt ist, wie sie ist, und unsere Einwirkung kann keine völlig andere aus ihr machen. Man denkt deshalb mit Sehnsucht an ein Universum, in dem der Mensch, anstatt so verbissen auf die sichtbaren Erscheinungen einzuwirken, bemüht wäre, sich davon zu befreien, nicht nur jeder Einwirkung auf sie zu entsagen, sondern sich genügend zu entblößen, um den geheimnisvollen Ort in sich selbst zu entdecken, von dem aus ein ganz anderes menschliches Abenteuer möglich wäre." 1 Jean Genet notierte diesen Gedanken 1958. Ein unverhohlener Fatalismus klingt aus seinen Worten und zugleich die Sehnsucht nach einem ganz anderen menschlichen Erleben. Doch  Genet schrieb diese Zeilen auch in dem Bewußtsein, daß es schließlich gerade diese "unvermeidliche Einrichtung" sei, der man eine Sehnsucht zu verdanken habe, die sich "anderswohin als ins Meßbare vorwagte", und daß diese Sehnsucht schließlich, wie hoffnungsvoll oder hoffnungslos auch immer, selbst eine schöpferische Kraft werden könnte. Der Lauf der Zeitspirale hat sich indessen über vier Jahrzehnte weiter gewunden und umkreist heute eine aus der Kontrolle geratene Welt, die die Zerreißproben zwischen Hoffnung und Schrecken, zwischen der schönen Vorstellung und der brutalen Erlebniswelt unentwegt erfahrbar macht. Die Bilder von Rainer Wölzl machen diese Welt noch unerträglicher, denn es scheint, daß dieser Künstler alles zu meiden weiß, was seinen Blick daran hindert, das zu entdecken, was vom Menschen übrigbleibt, wenn die falschen Anscheine entfernt sind. Aber vielleicht bedarf auch er dieser "unvermeidlichen Einrichtung", die uns aufgezwungen ist, damit seine Sehnsucht so groß wird, daß sie ihm die Kraft gibt, sein Suchen zu vollbringen.

 

Vom Frühjahr bis in den Sommer dieses Jahres hat Rainer Wölzl in Berlin und Wien an einem Zyklus gearbeitet, der den Gesamttitel "Haut" trägt. Bislang umfaßt die Serie 22 große und 50 kleine Blätter und 5 Skulpturen.2 Der erste und bestimmende Eindruck, den diese Bilder evozieren, läßt sich damit erklären, daß sie, bis auf eine Ausnahme, alle rot sind. Wenn ich mir vorstehe, daß sämtliche Werke gleichzeitig präsentiert werden könnten, dann befände sich der Betrachter in einem  rot durchglühten Raum, den er, wie ich vermute, entweder fasziniert  durchstreifen  oder aus dem er auf dem Absatz umkehrend flüchten würde.

In seinen Hautbildern hat Rainer Wölzl nackte menschliche Körper in rote Gründe projiziert, schattenlose Figuren, männliche wie weibliche und solche, denen nicht mehr eindeutig ein Geschlecht zugeordnet werden kann. Im Vergleich zu früheren Werken, die vielfach Paarkonstellationen vorführen oder mehrere Figuren in einem Bild vereinen, dominiert nun die Einzelfigur. Die Körper sind isoliert und fordern Raum für ihren eigenen Leib. Allerdings lassen sich mehrere Einzelbilder paarweise aufeinander beziehen. So befinden sich beispielsweise einige der männlichen und weiblichen Gestalten in denselben Stellungen und vollführen gleichartige Bewegungen.

 

Vier großformatige Bilder leiten den Zyklus ein (Abb. I-IV). Sie variieren Figuren, die "kopfüber" im Raum schweben. Ihr Geschlecht bleibt unbestimmt. Allein die Rücken sind sichtbar, denn in ihrer kauernden Haltung haben die Figuren ihre Gliedmaßen scheinbar so extrem zusammengezogen, daß weder Kopf, noch Arme und Beine zu sehen sind. Rainer Wölzl erfaßt die Körper mit einer subtilen Kenntnis der perspektivisch verkürzten Darstellungsweise menschlicher Anatomie. Viermal variiert er das Thema einer schwebenden Figur, die ihre Glieder und ihr Geschlecht verbirgt, die sich einem Außen verschließt und selbstbezogen in sich selbst ruht. Diese viermalige Wiederholung ein und desselben Motivs erinnert daran, daß mit der Zahl Vier traditionell Ganzheit und Vollständigkeit symbolisiert wird. Doch die vorgestellte Einheit steht im Widerspruch zu den fragmentierten Körpern. Angezogen durch die Schönheit der durchaus wohlgeformten Kurven, ist das Auge bereit, die fehlenden Teile zu ergänzen. Es sucht zu vervollständigen, was sich als Fragment präsentiert, um sich der immer aufdringlicher werdenden Vorstellung zu entwehren, daß das, was nicht sichtbar ist, abgeschnitten und amputiert sein könnte. Allein der Versuch mißlingt. Die gewaltigen Rücken bleiben deformierte, mit Haut überspannte Klumpen Fleisch.

 

Die fünf nachfolgenden Bilder, die auch in ihrer Entstehung der Vierergruppe folgten, variieren jeweils ein eigenes Motiv. Das erste stellt abermals die Rückenansicht eines Körpers dar (Abb. V). Hier erhebt sich der Leib symmetrisch über die gesamte Fläche. Die Beine sind zum Spagat gestreckt, die Arme parallel darüber ausgebreitet. Kopf, Hände und Füße werden von den seitlichen Rändern beschnitten. Das nächste Bild nimmt innerhalb der Folge eine solitäre Stellung ein (Abb. VI). Durch die weiße Farbigkeit unterscheidet es sich von allen anderen zuvor und später entstandenen Werken des Zyklus. Zum ersten Mal erhält die dargestellte Figur ein eindeutiges Geschlecht. Das Bild zeigt einen weiblichen Körper, der im lichten Farbraum treibt. Die Schenkel sind gespreizt und münden in abgerundeten Enden, die keine Vorstellung mehr darüber zulassen, ob der Rest der Beine durch den Körper verdeckt sein könnte. Dieselbe anatomische Unerklärlichkeit betrifft den Verbleib des Kopfes und den des linken Armes. Die kraftvolle Gebärde des Rumpfes geht über in die Geste des rechten Armes und mündet in einer abgeknickten Hand, die, als wäre sie mit einem unsichtbaren Nagel in den Grund geschlagen, all ihre Muskelkraft verloren hat. Diese helle Gestalt unterbricht die Folge. Schemenhaft erscheint die Figur in dem milchigen Grund. Sie ist die Projektion eines Körpers, der sich lustvoll öffnet und doch zugleich in einem unergründlichen Bann gehalten wird und in der symbolischen Deutung der Farbe Weiß, die Vorstellung von Reinheit und Unschuld, von Hochzeit und Tod in sich vereint. Der weiblichen Gestalt folgt im nächsten Bild ein Körper, dessen Geschlecht unbestimmt bleibt (Abb. VII). Der Ausschnitt beschränkt sich auf ein Gesäß und einen Rücken, aus dessen Leibesmasse sich die Wirbelsäule bohrt. An der Stelle, wo sich das Fleisch zur Taille verengt, umreißt eine dunkle Kontur den torsohaften Rumpf. Das nächste Bild präsentiert abermals eindeutig eine weibliche Gestalt (Abb. VIII). Sie dehnt ihre Glieder und bäumt den Oberkörper so kraftvoll auf, daß die einzelnen Rippen durch die Haut hindurchscheinen. Arme, Kopf und Beine bleiben verborgen. Dem Blick bieten sich die Brüste, ein durch die extreme Dehnung straff angespannter Oberkörper und die weit gespreizten Schenkel, die eine dunkle Scham entblößen. Das fünfte Einzelblatt zeigt zwei Beine, die aus der rechten unteren Kante diagonal ins Bild ragen (Abb.IX). Die Schenkel sind eng aneinandergepreßt und verbergen das Geschlecht. Diese verschließende Gebärde wird verstärkt durch die Haltung der beiden Füße, die übereinandergeschlagen sind.

Die folgenden acht Bilder lassen sich viermal zu Paaren gruppieren. Sie zeigen männliche und weibliche Körper, die sich über das Geviert der Fläche stricken oder Details menschlicher Leiber, die jeweils einem Mann und einer Frau zugeordnet werden können (Abb. XI, XII). Die Fragmentierung der Körper wird in einem Fall so weit getrieben, daß sie eine surreale Verfremdung erfährt (Abb. IX, X). Entscheidend ist, daß diese Verfremdungen das Ergebnis eines Willens sind, eine über die Ähnlichkeit hinausgehende Präsenz zu vermitteln, um die vielschichtige Verbindung von Assoziationen ins Spiel zu bringen, die mit diesem Bild verknüpft sind. Mit der gleichen Intention setzt Rainer Wölzl die Körper unsichtbaren Kräften aus. Die kopflosen Menschenleiber erstarren in einer ekstatischen Bewegung, bäumen ihre Glieder auf wie in einem rauschhaften Zustand, in dem sie der Kontrolle des Bewußtseins entzogen sind (Abb. XIV, XV). Eine innere Unordnung scheint diese Körper zu formen und sie einer extremen Spannung zu unterwerfen. Unentschieden bleibt, ob sich die Leiber voller Lust aufbäumen oder ob sie verkrampft im Banne einer Muskelgewalt stehen, der ihre lebendige Gegenwärtigkeit nicht vermindert, sondern zu intensivieren scheint. Auf dem vierten Bilderpaar balancieren eine weibliche und eine männliche Gestalt kopfüber im Raum (Abb. XVI, XVII). Sie strecken ihre Arme weit von sich, um damit die stabilisierende Grundlage für den Rest des Körpers zu bereiten, der sich artistisch in die Höhe hebt. Im Vergleich zu den zuvor beschriebenen Figuren, die sowohl fallen als auch schweben, stemmen sich diese beiden auf den ersten Blick der Haltlosigkeit trotzend  entgegen. Doch die souveräne Geste hat nicht lange Bestand. Der erste Eindruck schwindet und die gelenkigen Glieder wirken auf einmal steif. Der Balanceakt verkehrt sich in das Bild einer Folter, in dem die Körper wie Gemarterte  an ein Kreuz geschlagen sind. Die Gegensätzlichkeit von gezieltem Agieren und passivem Erleiden wird in einem doppeldeutigen Bild verwoben. Und dieses Vexierbild weiß Rainer Wölzl noch zu intensivieren, indem er die körperliche Erregtheit des Mannes konfrontiert nüt der Gebärde eines weiblichen Pendants, das die Schenkel übereinanderkreuzt und damit seine Scham beschützt. Das Motiv der sexuellen Verlockung durch die Frau, die sich ihrem Gegenüber gleichzeitig verschließt, wird hier sinnfällig zum Thema gemacht.

 

 Der Gruppe der vier Paare schließen sich fünf  Einzelbilder  an. Auf dem ersten Blatt werden Mann und Frau direkt miteinander konfrontiert  (Abb. XVIII). Ihre Oberkörper nehmen jeweils die volle Höhe der Fläche ein. Kopf, Arme und Beine werden von den seitlichen Rändern beschnitten. Verschwunden ist die verkrampfte Anspannung, die die anderen Körper kennzeichnet. Mann und Frau stehen sich in einer unerwarteten Ruhe und schlichter Abwartung gegenüber. Dieser erstmaligen Begegnung der Geschlechter folgt ein Bild, das nur noch eine "leere" Fläche präsentiert  (Abb. XIX). Verweilt der Blick jedoch lange genug, erscheinen Schemen in dem roten Grund und geben verschwommen ein Gesicht zu erkennen, das sich im nächsten Moment wieder verflüchtigen kann. Das dritte Einzelblatt stellt einen weiblichen Oberkörper vor  (Abb. XX). Das Motiv ähnelt einem zuvor entstandenen Blatt  (Abb. XIII). Doch wird der Leib nicht mehr wie dort von einem tiefen Rot durchdrungen. Hier ist die Farbe verblaßt. Die Haut wirkt transparent und läßt tiefer liegende Schichten durchschimmern. Das nächste Blatt zeigt eine weibliche Gestalt, die wieder kopfüber im roten Farbraum schwebt (Abb. XXI). Hier erscheint sie in der Vorderansicht, spreizt die Schenkel weit auseinander und entblößt ihr Geschlecht. Dieses Bild korrespondiert mit den vier eingangs beschriebenen Blättern (Abb. I‑IV). Der Blick gewahrt die Vorderseite eines Leibes, die preisgibt, was die in sich gekehrten Körper zuvor verdeckten. Das fünfte Einzelbild greift schließlich das Motiv der Rücken direkt wieder auf (Abb. XXII). Es setzt einen vorläufigen Abschluß und knüpft doch unmittelbar an den Anfang des Zyklus an. In einem "Dacapo al fine" kehrt die Figur zu ihrem Ausgangspunkt zurück.

 

Damit sind in Kürze die Motive der Bilder beschrieben. Fünf Skulpturen und kleinere Papierarbeiten variieren oder ergänzen das Thema durch die eine oder andere neue Idee. Doch es sind die großen Bilder, die den Kern des Zyklus bilden. Sie entwickeln allein schon in der Abfolge ihrer Entstehung eine eigene Dramaturgie: die Vierergruppe  der Rücken, die fünf Einzelbilder, die vier Paare, denen schließlich wieder fünf  Einzelbilder folgen. Auch wenn Rainer Wölzl betont, daß die Entstehung seiner Werke keiner vorher festgelegten Ordnung folgt, so präsentiert sich der Zyklus in seinem Verlauf doch mit Beckettscher  Raffinesse. Es gibt eine formale Unterscheidung in einzelne Gruppen, Segmente, die sich aufeinander beziehen lassen und am Ende die Auflösung in einem unerwarteten Bild, in dem alles wieder von neuem beginnen kann.

 

Die beunruhigende Kraft dieser Bilder erklärt sich aus der Ambivalenz von einem besonderen Schrecken und einer besonderen Schönheit, einer Spannung zwischen dem malerischen  Gestus und dem Beschriebenen. Sie provozieren, setzen auf ein lustvolles Annähern, das sich im nächsten Augenblick in Schauder verwandeln kann; sie evozieren unterschiedliche Eindrücke und bewirken, daß die erste Assoziation in eine andere Vorstellung geht. Es gibt auf diesen Bildern weder  Endgültigkeit in der Ansicht noch letzte Gewißheit in der Aussage. Gerade die Offenheit der Verbindungen ist es, die als Assoziation fasziniert, weil sie jede persönliche Annäherung ebenso zuläßt wie sie sie abweist.

 

In Rainer Wölzls Hautbildern schlagen ständig zwei Ebenen ineinander um. Einerseits gibt es die stete Reflexion von Bild und Tradition, andererseits gibt es den Impuls für einen freien Aufbruch der Farbe. In einem kontrollierten Arbeitsprozeß  bezieht Rainer Wölzl das Unkontrollierbare bewußt mit ein. Seine Anwendung des Zufalls läßt sich durchaus mit dem Surrealismus in Beziehung setzen, ohne daß Rainer Wölzl jedoch den Ideen und Grundsätzen der  Surrealisten verpflichtet wäre. Seine Verwendung zufälliger Zeichen und Ergebnisse hat andere Ursprünge und unterliegt einem anderen  Entstehungsprozeß  als der Automatismus der Surrealisten oder Duchamps kontrollierte philosophische Experimente mit dem Zufall. Während diese versuchten, durch "écriture automatique"  oder durch  ungewollte Figurationen, die sich aus Techniken wie der Frottage ergaben, Bildvorstellungen aus dem Unbewußten einzufangen, ist Rainer Wölzl nicht daran interessiert, das Unbewußte auf diese Weise sichtbar zu machen. Es kann leicht geschehen, daß er während der Arbeit zufällige Malspuren setzt. Gelegentlich geschieht das, um einen Bann zu brechen, wenn ein Bild schlecht vorankommt, oder aber, um das Konventionelle, das malerische Klischee zu zerstören. Als Endresultat wird ein Gleichgewicht angestrebt zwischen Unmittelbarkeit und Disziplin.

 

 Dem Rot kommt in diesen Bildern eine zentrale Bedeutung zu, denn gerade der koloristische Aspekt ist es, der den ersten Eindruck des Betrachters bestimmt und der deshalb im Gedächtnis haften bleibt. Rot gilt als die Farbe des Lebens, der Leidenschaft und der Sinnlichkeit. Aufgrund der Assoziation zum Feuer ist Rot sowohl der Prototyp der "warmen" Farbe als auch  Signalfarbe, die auf Gefahr hinweist. Rot ist die Farbe des Blutes. Unter allen Farben findet man Rot am frühesten in symbolischer Bedeutung, oft auch mit magischen Vorstellungen verknüpft. In prähistorischer Zeit sollte rote Ockererde, auf Leiber gestreut, diesen ein Weiterleben sichern. Im antiken Griechenland wurde über die Toten eine rote Decke gelegt. Im Altägyptischen war "rotmachen" gleichbedeutend mit Töten. Im Mittelalter wurde ein Todesurteil in roter Farbe geschrieben, das  Gewand des Henkers war rot, so wie in neuerer Zeit noch der Richtertalar. In der Bibel ist Rot die Farbe der Sünde und der Sühne.

 

Neben der Vorliebe für Schwarz spielte Rot bereits in früheren Werken Rainer Wölzls eine bedeutende Rolle. Aber niemals zuvor hat die Farbe eine derart obsessive Beachtung erfahren. In den  Hautbildern  erscheint Rot weder kontrastierend zu einer anderen Farbe, noch baut es auf eine Spannung, die sich im Nebeneinander der Töne einstellen kann. Rot genügt sich selbst und fesselt die Phantasie wie in einen Erinnerungsabenteuer. Die Bilder lassen offen, ob die Körper vor den Hintergründen erglühen, oder ob umgekehrt sie es sind, die den Raum zum Lohen bringen. Schicht um Schicht überlagern sich die Spuren, binden sich die Partikel zu leuchtenden Punkten, die in den Gründen schimmern und über die sich wieder flüssige Farbe wie Aderngeflecht  ergießt. Untere Schichten werden aufgerissen und durch neue Lasuren ergänzt. Farbschleier,  Linienschlieren, nicht identifizierbare Streifen, Kratzer und Flecken bieten sich als Hieroglyphen des gemarterten  Körpers an. Aber die suggestive Eindringlichkeit entsteht nicht aus der Vorspiegelung einer zu fassenden Qual oder einer hereinbrechenden Gewalt, der diese Körper  ausgesetzt  wären. Das Maximum an Gewalt liegt in den kauernden  und schwebenden Figuren, die keinerlei offensichtliche Marter erleiden, denen nichts Sichtbares geschieht und die um so eindringlicher die Möglichkeiten der Malerei verwirklichen. Äußerstenfalls ist es eine Bewegung auf der Stelle, ein Spasmus, der ein ganz anderes Problem Rainer Wölzls ausweist: die Wirkung nicht sichtbarer Kräfte auf den Körper, daher auch die  Fragmentierungen, die dieser tieferen Ursache zuzuschreiben sind. Diese Kräfte lassen sich beschreiben als die Kräfte der Deformation, die sich des Körpers bemächtigen, die der Auflösung, wenn die Figur von der Farbfläche zersetzt wird, und die Kräfte der Isolation, die die Körper vereinzeln, sie schweben und zugleich ins  Bodenlose  stürzen lassen.

 

In Rainer Wölzls Hautbildern  ist die Wechselwirkung zwischen Thema und Malerei so ausgebreitet und so verschränkt,  daß in der Schwebe bleibt, ob die Malerei durch das Thema interpretiert oder das Thema durch die Malerei verbildlicht wird. Die über viele Stufen endlich eroberte Fläche signalisiert Haut, die sich verletzt und geschunden über die Leiber streckt. Die Haut, die diese Körper   umfängt, ist nicht mehr Hülle allein, die das Innere  ummantelt und schützt. Diese Haut trägt Spuren, sie scheint vollgesogen von dem, was auf sie von außen und von innen eingewirkt hat. Rainer Wölzl begreift die Haut in der Vielschichtigkeit ihrer Bedeutung. Als Grenze zwischen dem Innenleben und der Außenwelt ist sie der ambivalente Ort des Wohlbefindens und der Verführung. Sie ist widerstandsfähig und empfindlich zugleich, vermittelt Schmerzen wie Lust. Ihre Nacktheit entspricht unserer Schutzlosigkeit und zugleich unserer Erregbarkeit. Die Haut ist ständig bereit, Reize zu erfassen und zugleich unfähig, Reize zurückzuweisen. Sie ist durchlässig undurchlässig, oberflächlich tiefgründig und wahrhaftig trügerisch. Die Haut schützt das innere Milieu vor Störungen von außen. Gleichzeitig trägt sie in ihrer Oberflächenbeschaffenheit,  ihrer Färbung und ihren Narben die Zeichen dieser Störungen und entblößt den inneren Zustand, den sie zu schützen vorgibt.

 

 In diesem Assoziationsfeld beruft sich Rainer Wölzl auf eine künstlerische Tradition, die Maler wie Rembrandt, Goya, Soutine und Bacon zu einer Neuauslegung der christlichen lkonographie in zeitgenössische und persönliche Themen führte und die in ihren Werken den menschlichen Leib als erbarmenswertes Fleisch enthüllten. Der geschundene und gemarterte Körper war bereits das Thema seiner großen schwarzen Bilder, die Mitte der achtziger Jahre entstanden. Inspiriert durch das Bild der "Bartholomäushaut", ein von Michelangelos "jüngstem Gericht" angeregtes Motiv, thematisierte Rainer Wölzl die abgezogene Haut des Märtyrers und" zelebrierte die monochromen Flächen als Epidermis und ästhetische Oberfläche malerisch ebenso wie den  traktierten  Körper des Schmerzensmannes." 3 In der vorletzten  Werkgruppe, den Interpretationen zu Samuel  Becketts  Prosastück "Der Verwaiser", rückt die Hautthematik vordergründig und unergründlich zugleich ins Zentrum seiner bildnerischen Gestaltung. Die literarische Vorlage beschreibt das Leben von etwa zweihundert Körpern in einem Zylinder, in dem "thermische" Bedingungen herrschen, die "sinnliche Berührung, Zärtlichkeit und Sexualität unvorstellbar machen."4 Rainer Wölzl gestaltet den Text in seiner Lektüre, adaptiert  einzelne Elemente und vereinnahmt sie in sein malerisches Repertoire. Dann wieder verläßt er den Text und  transformiert das Geschehen, läßt die mineralisch schimmernden Körperoberflächen  sich verschmelzen mit dem Grund, so daß sie gewichtslos werden und ihre feste Kontur verlieren, während die zwischen zwei Figuren liegende Fläche physische Züge annehmen kann.

 

Im aktuellen Zyklus wird die Haut zum eigentlichen Sujet. Rainer Wölzl begreift das Organ als Membran, als einen Ort des Austausches. Nirgendwo sonst als in der Struktur der menschlichen  Epidermis sind die Spuren des Lebens und das Simultanée der Zeit so verborgen und sichtbar zugleich. In den Bildern   ver­dünnt sich die Oberfläche bis zur Transparenz, öffnet sich, spannt sich so sehr, daß sie vibriert, reißt auf, wird zerstört und folgt darin doch dem  Naturprozeß  oder geht ihm voraus. Als wäre die Haut abgezogen von den Oberflächen der Leiber, läßt sie ein Inneres zum Vorschein kommen, das nichts enthüllt.

Rainer Wölzl malt diese Bilder mit einem subtilen Gespür für die menschliche Existenz, aus dem Ahnen um "das ganz andere Abenteuer", das ein  ersehntes  Sich-Verlieren mit sich bringt. "Wenn die Liebe das Sich-Verlieren ist, so ist die Malerei das Verschwinden", schrieb Rainer Wölzl bereits 1983 in einem bislang unveröffentlichten "Traktat über die Malerei des Verschwindens":  "Alles was ich sehe, mir auffällt, mir zustößt, ist bereits vergangen, so auch die Zukunft, die auf mich zukommt. Vergangenheit - Vergehen - Verschwinden. Was bleibt sind Spuren, ist die Erinnerung, das Auftauchen, die Erscheinung, das Auslöschen der Zeit - zeitlos." 5 Als "Lumpensammler" 6 seiner eigenen Wahrnehmung, läuft er dem Leben hinterher und  tatauiert seinen Bildern die Spuren der Empfindung, der Hoffnung und Verzweiflung als Wundmale ein. Rainer Wölzl versteht es, die Sensation der Empfindung mit einer Distanz zu behandelt. Daher kommen auf den Bildern alle zur Orientierung gesuchten Spuren nicht mehr vor, aber sie sind gerade deshalb anwesend wie der Glanz der Liebe auf einer zerbissenen  Lippe. Die Wirklichkeit wird zur Unbekannten und das Unbekannte die Wirklichkeit. Rainer Wölzls Malerei formuliert eine Gegenwelt, die Welt des Malers. Sie scheint sich in ihrem Vokabular weit vom Faßbaren zu entfernen, doch kann sie darauf setzen, daß ihre Zeichen wie ein Echo Widerhall finden. Diese Malerei spricht in den geheimen Cbiffren der Äquivalenz. Dem Auge wächst die unerhörte Aufgabe zu, anders als die dingliche Dingbeschreibung hinter den Bereich des Sichtbaren zu dringen und sein Unbekanntes zu schauen, um das andere zu erkennen, das als Wesenheit  hinter den Erscheinungen verborgen liegt. Die Grenze ist unsichtbar, aber man kann sie fühlen.

 

Jacqueline Rugo, Berlin, 1996
(Ausstellungskatalog des Museums Würth, Hirschwirtscheuer, Künzelsau, 1996)

 

Anmerkungen:
1 Jean Genet, Alberto Giacometti, Zürich 1962, deutsche Übertragung von Marlies Pörtner.
2 Rainer Wölzl hat in Gesprächen darauf hingewiesen, dem Zyklus weitere Werke hinzufügen zu wollen.
3 Peter Gorsen, Die schwarzen Bilder und die  Mystik des Verschwindens, in: Rainer Wölzl, Malerei/ Zeichnung 86/87. Austellungskatalog der Galerie Hilger, Wien und der Galerie Hermeyer, München, Wien 1987.
4 Gabriel Ramin Schor, Einkerkerungskunst, in: Rainer Wölzl, "...falls diese Vorstellung beibehalten wird", Zu Samuel Beckett - Der Verwaiser, Malerei - Zeichnung - Plastik, Stuttgart, 1996.
5 Rainer Wölzl, Traktat über die Malerei des Verschwindens,  unveröffenhehtes Mansuskript, 1983.
6 Zum Begriff des "Lumpensammlers" vgl.: Walter Benjamin, Das Passagen‑Werk, (111, 225), Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1982.