Schweres Schweben
Gewichte und Balancen in Rainer Wölzls »Reigen«

 

 

Jedem, der sie zum ersten Mal sieht, prägen sich die Figuren von Rainer Wölzl sogleich auf Dauer ein – ihr typischer Schwebezustand zwischen gegenständlich lesbaren Körperformen und deren Verselbständigung in plastisch modellierten Chiffren behauptet eine selbständige Position im Spektrum des heute Möglichen und Praktizierten. Die Traditionen der Figurenkunst und die immer noch gegebene Ausdruckskraft des Leibes sind bekannt – nach Jahrzehnten der Dominanz anderer Medien ist heute der Legitimierungsdruck der ehemaligen Mitte künstlerischer Produktion unter dem Druck der viel weiterreichenden grundsätzlichen Expansion und Verdünnung der Kunstbegriffe endlich verschwunden. Und Rainer Wölzls Arbeit zeigt, welche Sinnbezirke heute von figuraler Kunst angesprochen werden können.

 

Die Serie »Reigen« – deren Titel übrigens nicht von Arthur Schnitzlers berühmtem Stück, sondern von Wölzls spontaner Benennung einer Plastik aus dem Jahr 1999 stammt – zeigt vor allem: figurale Fragmente, Torsi, verfremdete Körperteile in Beziehungen oder »monographisch«, als Bronzeplastik, formatfüllend auf einem Blatt oder schwebend im großformatigen, aus bis zu sechs Einzelblättern bestehenden Bildfeld. Gemeinsam ist diesen Arbeiten ihre scheinbare Kontextlosigkeit. Die anthropomorphen Körper schweben vor einem Nichts, stehen auf keinem Grund, sind in keinem Raum lokalisierbar. Sie scheinen in keinem uns bekannten oder zugänglichen Lebensraum zu existieren.

 

Was bedeutet das? Ist die irritierende und gleichzeitig den Betrachter dieser Bilder geradezu magisch bannende Spannung zwischen der Erinnerung an körperlich Erlebtes und dessen expressiv-surrealer Verfremdung nur jenseits unserer üblichen Umwelt denkbar und lebensfähig? Ist die Umraumlosigkeit dieser Schwebeformen Hinweis auf deren Künstlichkeit? »Artifizielles sagt mehr über die ‚Realität‘ aus als jeder ‚Realismus‘«, sagt Rainer Wölzl selbst. Die künstliche Isolation der künstlichen Körper in einer hintergrundlosen Welt, die nichts erzählt und keine Hinweise gibt, ist vielleicht mit der romantischen Sehnsucht nach dem Horizont vergleichbar, einer voraussetzungslosen Welt des Neubeginns, wohl auch der Reinheit und Utopie einer reinen Kunst-Essenz, die ungestört ihren eigenen Gesetzen folgen kann.

 

Jedoch: Im Fluchtpunkt dieser Deutungsrichtung lauert die Gefahr des Idealismus, der zugunsten der Reinheit von Ideen jederzeit bereit ist, humane Kriterien über Bord zu werfen. Wölzls Weltanschauung geht exakt in die entgegengesetzte Richtung und nimmt die reale Wahrheit des Fleischlichen wörtlich, statt es in Symbolen zu verklären.

 

Weshalb also die Leere der Bilder? Darüber kann vielleicht die nähere Betrachtung der Körper selbst Auskunft geben, um die es hier geht. Ihre paradoxe Aura der fremdartigen Bekanntheit reflektiert die Assoziationen des Betrachters wie ein Spiegel. Durch diese Brüste, Knochen und Muskeln hindurch kann er keine »Botschaften« des Künstlers erkennen – der Zugang zu ihm ist durch seine Verweigerung von Erzählung, eben durch die angesprochene Kontextlosigkeit und durch die eben-nicht-gegenständliche Lesbarkeit der Objekte versperrt. Der Betrachter ist mit sich und diesen Formen allein gelassen, die rasch ausgelösten Assoziationen und Phantasien sind seine eigenen, nicht die des Künstlers.

 

Erfährt man, dass Wölzl sein Oeuvre insgesamt als »textbezogen« bezeichnet, es also immer wieder mit literarischen Werken in Verbindung bringt, dann wird klar, warum er in den Bildern so verfährt: Denn die »Geschichten« sind schon in Texten erzählt, die Bilder führen weiter in eine andere Welt. Eine Welt der visuellen Essenzen dessen, was erzählt oder imaginiert wird.

Die Knochenformen, die Torsi, Rücken, Arme und Beine scheinen aber nicht nur in ihrem Nicht-Raum zu schweben – sie zeigen auch eine merkwürdige Dichtotomie zwischen Präsenz und Relativierung. Überaus gegenwärtig sind sie schon alleine wegen ihrer haptisch zum Greifen nahen Modellierung der Kohle, wegen der perspektivischen Nähe eines Vordergrundteiles und wegen der schieren Größe der Arbeiten, die mitunter zwei Meter im Quadrat erreichen. Relativiert wird diese Monumentalität durch die Teilung der großen Bilder in vier bis sechs rechteckige Stücke, die in der Präsentation stets mit Abstand zwischen sich gezeigt werden. Das dient der Ent-Monumentalisierung, wenn es nicht sogar auch ironische Untertöne anschlägt. Wölzl frönt keiner Überwältigungsästhetik, seine Kraft weiß um ihre Gebrechlichkeit.

 

Anderen Gesetzen als die meist formatfüllenden Leiber scheinen die »Abacus«-Bilder zu folgen. Hier sieht man – wie die Kugeln der antiken Rechenmaschine – menschliche und tierische Körperteile an einer horizontalen Stange aufgefädelt. Aber sind es wirklich Körperteile? Im Bild »Abacus VI« etwa scheint eine abgeschnittene Hand nur aus ihrer Haut zu bestehen, auch der Torso ist hohl und der zerstückelte Unterleib eine leere Hülle. Eine dramatische Form, aber für welchen Inhalt? Goyas »Desastres« kommen dem Betrachter in den Sinn, auch Alfred Kubins finstere Schlachthausbilder. Mit diesen Assoziationen ist Wölzl keineswegs unglücklich, doch fehlen dem Mitteleuropäer der Jahrtausendwende wohl die dramatischen Kriegserfahrungen der beiden vorhergehenden Jahrhundertwenden, als die genannten Meister arbeiteten. Im »Abacus IV« erscheint ein Stierschädel aufgespießt an der Stange, umrankt von Rosen und begleitet vom Unterleib eines verkehrt herum aufgehängten Menschen.

Membra Disjecta waren schon im Manierismus eine beliebte Metapher für den Fall der menschlichen Hybris durch gottgesandte Katastrophen aller Art. Und sie stehen auch am Anfang der politischen Druckgraphik, der Karikatur und anderer Künste, denen die Vorführung einer aus den Fugen geratenen Welt ein Anliegen war und ist. So grausam dies ist, so unterhaltsam ist es mitunter. Gerade Goya zeigte, dass das Schaurige mitunter schön sein kann und auch Alfred Kubin kultivierte in seiner Graphik dieses Genre. Der Abacus – gerechnet wird in Fleischeinheiten.

 

Bei Rainer Wölzl ist diese formale Strategie Teil seiner immer wieder gesuchten Balancen. Austariert wird hier das selbstbewusste Zelebrieren körperlicher Kraft und Schönheit mit seinem Gegenteil, der Zerstückelung und bizarren Präsentation gebrochener Macht. Auch in der Gewichtung dieser Inhalte kann man einen Schwebezustand erblicken – schwere Gewichte werden gegeneinander bis zur Erreichung des Gleichgewichtes abgewogen.

 

Wölzls Balancen kann man auch auf mehreren anderen Ebenen beobachten, beispielsweise im Spiel zwischen gegenständlicher Lesbarkeit und freier Form. Nicht nur das Fortsetzen bekannter und »gewusster« menschlicher Körperformen mit anderen, freien, körperhaften Elementen – am schönsten in der »Artemis« ablesbar –, sondern auch der nahsichtige Bildausschnitt mit ambivalenten Körperelementen repräsentiert diese Balance zwischen gegenständlicher und freier Form, die sich von der formalen Ebene ausgehend in der assoziativen fortsetzt.

 

Die Summe dieser Balancen – man sprach sogar von der Nichtunterscheidbarkeit von Objekt und Subjekt in Wölzls Bild-Paaren – verrät einen kritischen Blick des Künstlers auf die Welt. Diese Haltung bewegt sich zwischen den Polen der unentrinnbar-schicksalshaften Geworfenheit des Menschen, wie es der Expressionismus kultivierte, und dem Glauben an eine letztlich doch aufklärerische Kraft des Leibes – denn im Grunde führt ja doch jeder Zivilisationsschritt, trotz aller Versprechungen der immateriellen Welt, auf die emotional geprägte Kultivierung des menschlichen Körpers zurück, in dem sich vieles abbildet und ausdrückt. Die Welt läßt sich nicht ohne weiteres entmaterialisieren, und allem Körperlichen hängt sowohl Tragisches, als auch Erhebendes oder Lächerliches an.

 

So gesehen ist der »Reigen« auch ein Kreisen um das, was der menschliche Leib leistet. Einmal in atemberaubender Nahaufnahme, ein andermal in Paarungen, wieder ein andermal in grotesken Zusamenballungen – und alles in Wölzls typischem Schwebezustand, der alles möglich erscheinen läßt. Denn die Bilder vermitteln auch, dass die Waage sich jederzeit neigen und die prekäre Balance kippen kann. Das ist die Spannung des »Reigen«, die Spannung des Lebens.

 

Matthias Boeckl, Wien 2004
(Rainer Wölzl. Der Reigen. Bronzen und Zeichnungen, Ausstellungskatalog. Herausgegeben: Schwarz Edition Wien und Galerie Jürgen Hermeyer, München)