Zu Rainer Wölzl zu Peter Weiss

 


I

Im Mai 1999 starb der 25jährige Marcus Omofuma am Flug von Wien kurz vor der Zwischenlandung in Sofia. Der Antrag des asylsuchenden Nigerianers war von den österreichischen Behörden abgewiesen worden, Omofuma wurde abgeschoben. Im Flugzeug wurde er von drei Kriminalbeamten begleitet. Er wurde an Händen und Füßen gefesselt, sein Mund mit Klebeband verschlossen. über die unmittelbare Todesursache sind sich Gutachter noch eineinhalb Jahre nach Omofumas Tod im Unklaren. Ein Herz- oder Lungeninfarkt ist möglich, aber auch Ersticken. Fest steht jedoch, daß das Anlegen von Fesseln und das Verkleben des Mundes zur, wie man sagt, »gängigen Praxis« der Behörden gehörte.

 

Omofumas Tod wurde öffentlich, der Nigerianer zu einem Fall, seine anonyme Gestalt, bis zu seinem Tod aus Sicht Europas nicht mehr als ein schattenhafter Eintrag auf einer Liste, wurde zu einem für einen kurzen Moment aufleuchtenden Bild in den Nachrichten. Wie das des Josef Simon, Peter Sarközi und der Brüder Karl und Erwin Horwath. Die vier Roma-Angehörigen starben in Oberwart (Burgenland) durch eine Sprengfalle eines rechtsradikalen Terroristen. Oder wie das des brennenden Flüchtlingsheimes in Rostock, vor dem Skinheads tagelang, ungehindert von Polizei und Anwohnern, randalierten. Oder wie das Bild der unregelmäßigen Stufen der Todesstiege im Konzentrationslager Mauthausen, über welche die Gefangenen von den SS-Schergen getrieben und mit Tritten und Hieben zum Ausgleiten gebracht wurden, sodass sie, ihre Vordermänner mitreißend, in einem wüsten Haufen die Stufen hinunterkollerten.

 

Die Bilderfolge »Pergamon« des Wiener Malers Rainer Wölzl ist in den Jahren 1998/99 entstanden. Sie schlägt dem Betrachter die Geschichten von denen entgegen, »deren Los es war,« wie Wölzl, eine Zeile aus Peter Weiss' »Die Ästhetik des Widerstands« zitierend, notiert, »in die Erde gestampft zu werden.« Sein Blick gilt der Kreatur, die in der Geschichte zum Verschwinden gebracht wird, und ihrem beschädigten und geschundenem Körper. Wölzl hat ihre Bilder im Wortsinn aufgelesen, und zwar dort, wo sie sich fanden und als Fälle für einen Augenblick lang aufblitzten:  in den Nachrichtensendungen im Fernsehen, in Tageszeitungen, in Erwähnungen in Almanachen und im Internet. Einige Blicke auf sie hat er als Lumpensammler der Geschichte fixiert, ihnen als Künstler nachgemalt und als Chronist ihre Spuren mit konkreten Orten und Zeitpunkten versehen.

Das Pergamon Rainer Wölzls ist kein Zyklus, kein epischer oder romanhafter Bogen, der durch die Geschlossenheit der Gestaltung Geschlossenheit und Sicherheit von Erfahrung vermittelt. Sein Pergamon ist ein Journal von Geschehen am äußersten Rand der Geschichte, die Punkte sind nur lose aneinandergereiht durch Einträge auf einer Zeitskala. Bislang reichen sie vom Wannsee-Protokoll über die »Endlösung der Judenfrage in Europa« 1942 bis zur unmittelbaren Gegenwart, aber jede chronologische Ordnung täuscht. Sie ist provisorisch, Pergamon scheint verlängerbar. Die Blätter des Journals sind in jede Richtung fortsetzbar, bis dem Betrachter, selbst Teil des Geschehens, solange Geschichte als Singular Sinn macht, das Hören und Sehen vergeht.


Wie groß auch die Unsicherheit sein mag im Umgang mit der Geschichte, eines ist hier gewiß: Fortsetzung folgt. Wölzls Blätter »beleuchten« gerade in ihrer Dunkelheit die andere Seite des Fortschritts, von der industriellen Vernichtung bis zur Patentierung von Leben, und rechnen in den Szenen der Gewalt die Baukosten der Luftschlösser vor. Sie werden im Laufe der Geschichte nicht geringer für diejenigen, die sie zu bezahlen haben, die aber die Schlösser nie bewohnen werden, weil sie nicht die ihren sind. Entstanden sind obszöne, häßliche und furchterregende Erinnerungen an den gemarterten Körper, unzeitgemäß in einem juste milieu, in dem allen Ernstes über das Ende der Geschichte gesprochen und offenbar nur noch über die Modalitäten ihrer Abwicklung, ob in Jubel oder Trauer, diskutiert werden kann.

 

Was Rainer Wölzl malt, bedarf keines erläuternden Wortes. Wer etwas sehen will, sieht es. Dass Wölzl jedoch etwas ins Bild setzt, den medial vertrauten Bildern des Schreckens Bilder entgegenstellt und aus welcher Perspektive dies geschieht, erscheint » inmitten des fröhlichen »Tastaturbetriebs« (Burghart Schmidt) der Gegenwart - eine Bemerkung wert.

 

II

Rainer Wölzl ist einer der produktivsten Leser, die ich kenne. Seit seinem Studium bildet die Erfahrung, die er über Literatur gewinnt, einen Ausgangspunkt für seine Zeichnungen, Radierungen, Gemälde und Skulpturen. Zwischen 1986 und 1994 sind Zyklen zu Franz Kafka, Pier Paolo Pasolini, Georg Trakl, Jean Genet, zu Paul Celans Todesfuge, Samuel Beckett, Lautrèamonts Gesängen des Maldoror, zu Fernando Pessoa und García Lorca entstanden, dennoch hat Wölzl, so weit ich sehe, keine einzige Illustration geschaffen. Der literarische Text wird von ihm verarbeitet, dient dem »Bildner«, wie sich Wölzl ebenso bescheiden wie lakonisch bezeichnet, als Puffer zwischen Welt und Bild und zugleich als Sprungbrett in die eigene Imagination, in der die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper, seiner politischen ökonomie und den Formen seiner Disziplinierung dominiert.

Der Titel seiner Arbeiten »Pergamon. Zu Peter Weiss' Die Ästhetik des Widerstands« ist mehrdeutig, der Titelverweis mobilisiert unterschiedliche Schichten der Assoziation: Er läßt an den Mythos der Gigantomachie denken, der auf dem Sockelfries des Pergamonaltars erzählt wird, aber ebenso an die Geschichte seiner Überlieferung und natürlich an das späte Hauptwerk des Schriftstellers Peter Weiss.

 

Der über 120 Meter lange, über zwei Meter hohe Fries des Pergamonaltars kündet vom Sieg der Götter über die Giganten. Die aus dem Blut des Uranos geborenen Söhne der Gaia, halb Schlange halb Mensch, stürmten den Himmel. Einige Quellen vermeinen zu wissen, daß sie auf der Suche nach der Pflanze waren, die ihnen Unsterblichkeit verleihen sollte und die ihnen die Götter verwehrten, andere glauben an die Rache der Erdgöttin für die Vernichtung der Titanen, wieder andere geben keinen erkennbaren Grund für den Aufstand des »frevelnden Volkes« (Homer) an. In der Gigantomachie des Clauianus ist es die Verschwörung der Natur gegen die ätherische Welt der Götter, die sich am Olympos zur Schlacht um die Welt-Herrschaft versammelt haben: »Und es erschallte die Trompete der Wolken. Den Göttern gab der Äther, den Giganten die Erde das schmetternde Zeichen zum Angriff, die Natur versank wieder in Chaos. Die hoffährtigen Giganten hoben die Grenzen der Natur auf, die Inseln verließen ihren Platz im Meere, die Felsenriffe der Tiefe kamen an die Oberfläche, die Meeresküsten verschoben sich, die Flüsse verließen ihr altes Bett. Einer ergriff den Berg Oita, ein anderer den Ossa oder den eisbedeckten Athos als Waffe, wieder ein anderer riß den Felsen Rhodope samt den Quellen des Hebros empor, und auch das Wasser des Enipeus strömte über die Schultern der Giganten dahin. Gaia selbst sitzt auf der geebneten Fläche der Felder, es gibt keinen Hügel, keine Anhöhe mehr auf Erden, die Erdmutter selbst hat sich unter ihren Kindern aufgeteilt.« Trotz ihrer Macht über die Natur werden die Giganten von den Olympiern besiegt. Der Aufstand mißlingt, einer nach dem anderen wird erschlagen. Die Götter blieben siegreich jedoch nur, wie die Bibliothek des Apollodoros, der selbst in Pergamon lehrte, vermerkt, da sie sich mit Herakles, einem Sterblichen, verbündeteten. Herakles, der Tüchtige, stets Dienende und Sühnende, unterwirft sich der göttlichen Ordnung, nur gemeinsam mit ihm gelingt es den Olympien, das »frevelnde Volk« zu bezwingen und ihre noch unsichere göttliche Macht auch auf der Erde zu festigen.

 

Der Altar von Pergamon und sein Fries haben aber ihre eigene materiale Geschichte. Der dem Zeus geweihte Marmoraltar ist ein Siegesdenkmal, von Eumenes II. im 2. Jahrhundert in Erinnerung an die Abwehr der syrischen Belagerer errichtet, wodurch die eigene Geschichte in den Mythos transformiert und erhöht wird. Im 7. Jahrhundert wurde Pergamon von den Arabern angegriffen, der Altar wurde demontiert und die Steine für die Stärkung der Stadtmauer benutzt. Vergeblich, die einstmals mächtige Stadt wurde verwüstet, der zerstörte Altar geriet in Vergessenheit. Die Szenerie der Demontage und des Vergessens ist von einer bitteren Brechtschen Ironie: Das Heiligtum, das in der Antike zu den Weltwundern zählte, wird mitsamt dem Fries eilig abgetragen, die in kostbaren Marmor geschlagenen Szenen vom heroischen Kampf der Götter werden wieder zu profanen Steinen für eine Barrikade im realen Kampf und für mehr als ein Jahrtausend vergessen.

 

Erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die verstreuten Trümmer vom deutschen Eisenbahningenieur und Archäologen Carl Humann wiederentdeckt. Die Reste des Altars wurden im Auftrag der Berliner Museen ausgegraben, mit Zustimmung des osmanischen Reiches 1872 nach Berlin verbracht und ab 1930 in dem von Alfred Messel konzipierten Pergamon-Museum ausgestellt. »Es ist«, heißt es in Walter Benjamins 7. These über den Begriff der Geschichte und nirgendwo scheint der Satz besser zu passen, »niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.«Vor einigen Jahren wurde der Altar von der türkischen Stadt Begrama, die sich nicht mehr an das Einverständnis der Berliner Museen mit dem osmanischen Reich aus dem 19. Jahrhundert gebunden fühlt, zurückgefordert, allerdings mit wenig Aussicht auf Erfolg: Der Fries gehört seit Jahrzehnten zu den Touristenattraktionen Berlins.

 

III

In den frühen 30er Jahren hat Peter Weiss das neue Pergamonmuseum häufig mit seinem Jugendfreund Uli besucht, der im Zweiten Weltkrieg zugrunde ging und dem Weiss in »Fluchtpunkt« 1962 ein Denkmal setzte. Die Gespräche über den Kampf der Giganten gegen die Götter wurden zum zentralen Motiv im ersten Band seines Romans »Die Ästhetik des Widerstands« aus 1975. Die Entzifferung und Interpretation des Frieses nimmt als »Omen« die Handlung des Romans, die Geschichte und die Dilemmata der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im verzweifelten Widerstand gegen den Nationalsozialismus, vorweg.

Im September 1937 diskutieren die Freunde Coppi und Heilmann, der Arbeiter und der Intellektuelle, über die Bedeutung des Frieses. Beide sind sie Kommunisten. Der Erzähler steht vor der Abreise nach Spanien, um sich den internationalen Brigaden anzuschließen. Coppi und Heilmann sind zum Widerstand gegen die Nazis in Deutschland bereit. In der Darstellung des mythologischen Kampfes werde den Untertanen das Bild einer scheinbar unumstößlichen Ordnung »zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt«, stimmen Coppi und Heilmann überein. »Einzig um die Absicherung des Herrschaftsbereichs der Könige ging es in den Kriegen«, läßt Weiss Coppi sagen. Und weiter: »Die Götter, die sich mit den Erdgeistern konfrontierten, hielten die Vorstellung bestimmter Kräfteverhältnisse lebendig. Ein Fries voll namenloser Soldaten, die, Werkzeug der Oberen, in jahrelangen Kämpfen über andre Namenlose herfielen, hätte die Sicht auf die Dienenden verändert, ihre Stellung angehoben, nicht die Krieger, die Könige trugen den Sieg davon, und wer siegte, durfte den Göttern gleich sein, während die Unterlegnen die von den Göttern Verachteten waren.« Pergamon bringt in der materialistischen Sicht Coppis nicht den überzeitlichen Kampf des Guten gegen das Böse zum Ausdruck, sondern den »Kampf zwischen den Klassen«. Zugleich aber ist das Relief  Kunst in höchster Vollendung, deren Zwiespalt noch zweitausend Jahre nach seiner Entstehung spürbar, da im Werk selbst aufgehoben, ist. »Dazu berufen, königliche Macht auszustrahlen, konnte es gleichzeitig befragt werden nach den Eigenarten des Stils, nach seiner plastischen Überzeugungskraft (...) Das Verstummen, die Lähmung derer, deren Los es war in die Erde gestampft zu werden, war weiterhin spürbar.«

 

Ein Detail ist inmitten der Hunderten Leiber, Torsi und Masken wesentlich, es ist eine Leerstelle. Coppi und Heilmann entdecken, dass am Pergamonfries die zentrale Figur des Mythos fehlt: Herakles, der den Göttern und nicht den himmelstürmenden Söhnen der Gaia zur Hilfe eilte. »Wir hörten die Hiebe der Knüppel, die schrillenden Pfeifen, das Stöhnen, das Plätschern des Bluts. Wir blickten in eine Vorzeit zurück, und einen Augenblick lang füllte sich auch die Perspektive des Kommenden mit einem Massaker, das sich vom Gedanken an Befreiung nicht mehr durchdringen ließ. Ihnen den Unterworfenen, zur Hilfe müßte Herakles kommen, nicht denen, die an Waffen genug hatten.« Am Ende des Romans ist die Gewißheit der Befreiung dahin. Sowohl Coppi wie Heilmann wurden hingerichtet, ihre ästhetischen Differenzen machten für die Nazis keinen Unterschied. Im fiktiven Gespräch mit den toten Freunden vor der Pranke des Löwenfells des Herakles dominieren in der Ästhetik des Widerstands die Zweifel: »... und Heilmann würde Rimbaud zitieren, und Coppi das Manifest sprechen, und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.« Herakles hatte sich für die andere Seite entschieden.

 

IV

Ein halbes Jahrhundert nach Peter Weiss steht Rainer Wölzl während seiner Berlinaufenthalte häufig vor dem antiken Altar. »Radikale Kunst heute«, schreibt Adorno, »heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe Schwarz.« Nichts ist in Wölzls Pergamon vom Optimismus der Aufklärung geblieben, die Moderne hat sich ihrer religiösen wie geschichtsphilosophischen Utopien entledigt und zeigt in der Kargheit von Wölzls Pergamon ihr Gesicht. Was bleibt, sind die Szenen der Gewalt: in vier bis zehn Kader geteilt, jedes Blatt in einheitlichem Format, schwarze Blätter wie Bühnenbilder in einem schwarzen Theater der Geschichte. Trotz ihrer enormen Zahl schweigen die Blätter von vielem und sind sich der Schuld des Verschweigens von vielem durch die Darstellung von einzelnem bewußt.

 

Wölzls Mittel, dieses Schweigen bewußt zu machen, ist die Monochromie, die bis auf zwei Ausnahmen alle Blätter beherrscht. Das Schwarz kontrastiert zunächst die bunte Welt der Hoffnungen und Sehnsüchte, die sich an die Zukunft knüpfen. »Alles was ich sehe,« schreibt Wölzl in seinem »Traktat über die Malerei des Verschwindens« aus 1983, »mir auffällt, mir zustößt, ist bereits vergangen, so auch die Zukunft, die auf mich zukommt. Vergangenheit - Vergehen - Verschwinden. Was bleibt sind Spuren, ist die Erinnerung, das Auftauchen, die Erscheinung, das Auslöschen der Zeit - zeitlos.« Die Farbe der Auslöschung, der Negation von Zeit ist das Schwarz, symbolisch wie optisch die Farblosigkeit als Absorption von Licht. Zugleich meidet das Schwarz Wölzls das Anekdotische und den vornehmen Ton des Nihilisten, der diese Auslöschung nochmals zelebriert. Wölzls Monochromie hat nichts Feierliches, nichts Magisches, sie bleibt im matten samtenen Glanz, den ÷l auf Papier erzeugt, sachlich wie das Schwarz, das die Zahlen der Buchhalter auf der Habenseite kennzeichnet. Hier wird bildhaft vorgerechnet, abgerechnet und die »sachliche und rechnerische Richtigkeit« - Grundformel des modernen Rechnungswesens - bestätigt. Das ist es, was wir haben, eine Sollseite der Geschichte gibt es nicht mehr. In seinem Monolog »Der Idiot und der Buchhalter« läßt Wölzl Dostojewskijs Myschkin sagen: »Was wollen Sie? Sand im Getriebe sein. Sie werden dafür zahlen. Zahlen bis sie schwarz werden. Schön wäre es. Schön schwarz wäre es.«

 

Vom Schwarzen Quadrat Malewitschs sind die finsteren Blätter Wölzls allerdings noch weiter entfernt als das bunte Marktgeschrei des utopischen Denkens. Trotz aller Sachlichkeit bleibt das Schwarz als Grundfarbe Wölzls sinnlich und kündet trotz aller Verdunkelung, Sprödigkeit und Negation in bestimmter Weise noch von Glück. Die Negation, heißt es bei Adorno, schlägt zwar nicht ins Positive um, doch sie vermag in Lust umzuschlagen, einer Lust, die sich aus der »Fähigkeit des Standhaltens« rekrutiert. Die Differenzierung des Schwarzen in den einzelnen Blättern Wölzls mag minimal sein, die Absorption von Licht fast vollständig und man muss sich abmühen, um etwas zu erkennen, aber sein Pergamon bleibt gegenständlich. Seine Monochromie hält Stand in zwei Richtungen: Sie widersteht der Illusion einer bunten, kaleidoskopartig hellen Welt der Bilder ebenso wie der Sphinx des Schwarzen Quadrats, die alle Rechnungen auslöscht. Wenn Wölzl seine Malerei daher als »Malerei des Verschwindens« bezeichnet, so ist im Genetiv der Selbstwiderspruch, der Wölzl zur Produktivität treibt und ihn vor dem Verstummen bewahrt, miteingebaut. Auch wenn die Ansprüche bescheiden werden, auch wenn von Herakles wie bei Peter Weiss nur noch die Reste des Löwenfells sichtbar sind.

 

V

Von der »Ästhetik des Widerstands« ist heute nicht viel mehr als der Titel geläufig. Weiss' Schriften sind am Ende der 80er Jahre nach und nach in die Schamecken der Bibliotheken verschwunden, mit Ausnahme seines »Marat/Sade« vielleicht, aber nicht wegen eines rezenten Interesses am großen »Freund des Volkes«, das Interesse gilt heute eher de Sade. Fragt man nach Peter Weiss, erntet man bei der jüngeren Generation ein fragendes Achselzucken, bei der etwas älteren bisweilen einen überrascht nostalgischen Blick, wie wenn man plötzlich an eine alte Bekanntschaft erinnert wird, an die man jahrelang nicht gedacht hat. »Lebt er denn noch«, fragt mich einer, an der Berliner Mauer war in den 80er Jahren die Inschrift »Who the fuck is Peter Weiss?« zu lesen.

 

Mit der Berliner Mauer ist die Inschrift ist die Frage nach Peter Weiss verschwunden. Lichtjahre weit entfernt erscheinen die »Zehn Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt« aus 1965, sein säuberlich gelistetes Bekenntnis zum Sozialismus (das dennoch ein schrecklicher Ideologiesalat mit tausend Wenn und Aber, Bedingungen und Einschränkungen geblieben ist) oder sein »Viet Nam Diskurs«, aus der fernen Zeit, als der Begriff »Diskurs« noch nichts von der Klebrigkeit hatte, der ihm seit den 80er Jahren anhaftet. Die meisten Antworten, die Peter Weiss gegeben hat, sind nur noch Erinnerungen an die Geschichte seines Jahrhunderts, das bekanntlich vorbei ist, nicht aber die Fragen, die er gestellt hat.

 

Ich blättere vor den Bildern von Rainer Wölzl nochmals durch die unzähligen Rapporte und Notizen, in Weiss' Briefen und Reden, in den Dramen und Erzählungen, die vor der Ästhetik des Widerstands entstanden sind. Statt dem politisch entschlossenen und klaren Peter Weiss, als der er in den 60er und 70er Jahren gelesen wurde, finde ich einen anderen Autor und Künstler: Voller Zweifel, Inkonsequenzen und Unsicherheiten, angespannt und hin- und hergerissen zwischen »Schreckenslähmung« und »Aggressivität«, zwischen Engagement und künstlerischer Autonomie, zwischen der Suche nach Distanz und der Sehnsucht nach Teilnahme, schwankend zwischen seiner Existenz als Maler und Schriftsteller.

Bevor er zu schreiben begann, hat Peter Weiss zunächst seine Begabung für die Malerei entdeckt. Die allegorischen Zeichnungen und Gemälde aus den späten 30er Jahren, als Weiss bei Willi Nowak an der Prager Akademie studierte, erinnern an Kubin und Bosch, später in der schwedischen Emigration wird der Einfluss von Endre Nemes und des magischen Realismus spürbar. Weiss malt Künstlerbilder und Traumrealitäten, seine Selbstportaits zeigen einen isolierten, in sich versunkenen Beobachter, ein letztes Blatt, der Einband für Artur Lundkvists »Sällskap för natten«, zeigt einen Engel, dem eine Blume aus dem Kopf wächst, inmitten einer kalt ausgeleuchteten, toten Industriearchitektur. Fast meint man Benjamins Engel der Geschichte, der sich an die Trümmer der Vergangenheit klammert und dennoch mitleidlos in die Zukunft gerissen wird, auf dem Bild vorbeifliegen zu sehen.

Den Grundkonflikt benennt nicht der Schriftsteller, sondern der junge Maler: »Mein Leben«, schreibt Weiss in einem Brief an Robert Jungk und Hermann Levin-Goldschmidt vom 29. 10. 1941, »ist ein Zwiespalt: Ich will, muß an eine Zukunft glauben und sehe oft nur das Ende.«

 

In seiner Existenz als Maler konnte Weiss den Zwiespalt weder schließen noch produktiv machen. Hat Weiss diesen Konflikt je gelöst? Ich denke nicht, der Widerspruch durchzieht alle Figurenkonstellationen in den Stücken und Erzählungen, aber als Schriftsteller gelang es ihm, seine Dialektik in Gang zu setzen. Die Polarität findet sich in den verschiedensten Verkleidungen in der kafkaesken Familie in »Der Schatten des Körpers des Kutschers« ebenso wie in den antithetischen Figuren von Trotzki und Lenin in »Trotzki im Exil« und vor allem im »Marat/Sade«: Dem entschlossenen Revolutionär Marat, der Verfolgung und Tod im Dienste der Revolution hinnimmt, stellt Weiss den indifferenten Individualisten und Ästhet de Sade gegenüber, der den eigenen Tod als ultimative Grenze faßt und in Erkenntnis der Unmöglichkeit einer über sie hinausreichenden Zukunft »alle Spuren auslöschen« will.

 

Blättert man in den späten Notizbüchern, die parallel zur »Ästhetik des Widerstands« entstanden sind, scheint eine pessimistische Haltung den Ton anzugeben. Nach endlosen Umwegen und Versuchen, doch irgendwie eine Entscheidung für sich zu treffen, scheint Weiss wieder zur Ratlosigkeit des Malers zurückzukehren und ohne Antwort in die szenische Collage des »Marat/Sade« einzutreten, die er ja als endloses Spiegelkabinett konzipiert hat. Marat ist in Wahrheit kein Gegensatz zu de Sade, er ist im Spiel im Spiel eine Erfindung des Marquis - in einer künstlerischen Inszenierung allerdings, die selbst in einem Irrenhaus spielt...

 

Die Hoffnung, irgendwo einen Ausgang aus dem Hospiz von Charenton gefunden zu haben, wird von Weiss nicht beschworen, aber  - und dies mag der Skandal des Peter Weiss für jene sein, die sich im Posthistoire wähnen - er triumphiert auch nicht darüber. Am Ende ist es, ohne eine Antwort zu kennen, eine Frage der Perspektive, aus der ein Künstler malt und schreibt. Für Weiss bleibt es die

 

»... Perspektive derer, die sich ganz unten befinden u(nd) dort, Entbehrungen u(nd) Leiden auf sich nehmend, ihre Überzeugung gewinnen.« (Notizbücher 1971 - 1980)

 

VI

Was die Bilder Rainer Wölzls mit der »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss teilen, sind die Zweifel und ist diese Perspektive.

 

»Wer zu lange in die Sonne blickt, wird blind, an die Dunkelheit gewöhnt man sich,« sagt man jedem Kind. Ob sich die Menschen tatsächlich an die Dunkelheit gewöhnen, ist die Frage, die sie stellen.

 

Ernst Strouhal, Wien 2001
(Zu Rainer Wölzl zu Peter Weiss.- In: Wölzl, Rainer: Pergamon. Die Ästhetik des Widerstands. Ausstellungskatalog Wien 2001)

 

 

Literatur:
Zur Geschichte des Pergamonaltars vgl. Wolfgang Radt: Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole. Darmstadt 1999. Von Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Frankfurt/M. 1962; Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Frankfurt/M. 1964; Rapporte 2. Frankfurt/M. 1971; Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt/M. 1983 (= 1975 - 1981). Zu Peter Weiss siehe u. a.: Lars Gustafsson: Peter Weiss' Torheit und Weisheit.- In: ders.: Die Bilder an der Mauer der Sonnenstadt. Essays über Gut und Böse. München 1987, S. 125 - 131; Beat Mazenauer: Vision einer Gesellschaft der Vernunft. Peter Weiss' langer Weg in den Sozialismus.- In: Theodor Bergmann/Mario Kessler (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus. Alternativen zum Stalinismus. Mainz 1993, S. 306 - 319; Peter Spielmann (Hrsg.): Der Maler Peter Weiss. Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme. Bochum 1982 (Museum Bochum, Katalog zur Ausstellung); Rudolf Wolff (Hrsg.): Peter Weiss. Bonn 1987; Die Mauer-Inschrift -Who the fuck is Peter Weiss?- zit. nach: www.kat.ch/bm/pw/who.htm. Von Rainer Wölzl: Traktat über die Malerei des Verschwindens. Manuskript Wien 1983 (zit. nach J. Rugo, s. u.); Der Idiot und der Buchhalter. Ein Stück Prosa. Wien 1997. Zu Rainer Wölzl vgl. u. a. Peter Gorsen: Die schwarzen Bilder und die Mystik des Verschwindens.- In: ders.: Rainer Wölzl. Malerei/Zeichnung 86/87. Katalog Galerie Hilger Wien 1987; Siegfried Mattl: Zu Federico García Lorca und Rainer Wölzl.- In: Rainer Wölzl: Federico García Lorca. Kleiner Wiener Walzer. Dortmund 1994, S. 5 - 17; Burghart Schmidt: Philosophie des Schwarzen im Minimalisieren des Reliefs. Schwarz auf dem Weg zur Farbigkeit.- In: Rainer Wölzl. Das Konzil der Buchhalter. Horn 1993; Jacqueline Rugo: Das Innere der Sicht.- In: Rainer Wölzl: Haut. Künzelsau 1997, S. 7 - 12.