Widerständig wird allein der langsame Blick

Rainer Wölzl: ”Pergamon. Zu Peter Weiss Die Ästhethik des Widerstands” im Marburger Kunstverein

 

 

Eine ebenso ansehnliche wie denk-würdige Ausstellung ist zur Zeit (bis zum 13. Juni 2001) im Marburger Kunstverein zu sehen: Eine Serie von Arbeiten des 1954 in Wien geborenen Künstlers Rainer Wölzl im Anschluß an Peter Weiss‘ monumentalen letzten Roman ”Die Ästhetik des Widerstands”. Wölzl ist in Marburg kein Unbekannter mehr: Vor zehn Jahren präsentierte ihn der Kunstverein in seinen alten Räumen am oberen Markt; 1997 waren Arbeiten zu Becketts ”Verwaiser” im Universitätsmuseum zu sehen.


Die Ausstellung ”Pergamon”, die zuvor in Mannheim gezeigt wurde und im kommenden Jahr noch im Kolbe-Museum in Berlin zu sehen ist, dokumentiert wiederum die Auseinandersetzung des Künstlers mit einem großen literarischen Werk, aber auch mit einem bedeutenden Kunstwerk. Im ersten Teil der ”Ästhetik des Widerstands” spielt ja der Pergamon-Altar eine dominante Rolle, bildet geradezu den Ausgangspunkt aller Reflexion über Kunst und Politik.


Rainer Wölzl gehört zu einer aussterbenden Art, nämlich derjenigen von Künstlern, die mit ihrer Arbeit einen politischen Anspruch verbinden. Die Tradition einer politischen Kunst hatte in Deutschland einst prominente Vertreter (Dix, Grosz u.a.), ist aber nach dem Ende des Faschismus fast ganz abgerissen. In österreich aber hat sie sich lebendig erhalten, wozu gewiß auch die politischen Verhältnisse (Waldheim, Haider) ihr Teil beitragen.


Der beherrschende Farbeindruck dieser Ausstellung ist das Grau, in dem zwei farbige Bilder eigene Akzente setzen. Den Zuschauer empfängt eine Video-Installation ”Ich bin da, wo mein Auge ist”, ein Seitenblick fällt auf zwei vollplastische Bronzen nach Detailmotiven vom Pergamonfries, dann wird das Auge hingezogen auf ein realistisch gemaltes farbiges Diptychon (160 x 382 cm) ”Berlin, am großen Wannsee Nr. 56-58”. Merkwürdig leer ist die Perspektive, seltsam tot das Bild – der Titel nötigt zum Denken, bis schließlich deutlich wird, daß das eine Adresse ist, die Adresse jener Villa, in der 1942 die ”Wannseekonferenz” tagte, auf der die ”Endlösung der Judenfrage in Europa” beschlossen wurde. Aber wird allen Besuchern diese Gedankenverbindung gelingen? Selbst wer zum teuren, bei Hatje erschienenen Katalogbuch greift, muß sich schon in den Essay von Ernst Strouhal vertiefen, um die Lösung zu finden. (Die Abbildungen sind bei diesem opulent aufgemachten Band übrigens allzu dunkel geraten.)


In der weiteren Ausstellung herrscht die Farbe Grau. Aus vier, sechs, acht oder zehn Teilen zusammengefügte Arbeiten (öl auf Papier), rahmenlos an der Wand angebracht, ergeben zusammen Bilder wie aus Fenstern oder Gittern gesehen. Das Format der Einzelblätter ist genormt (105 x 79 cm), dadurch entsteht ein sehr einheitlicher Gesamteindruck. Jede Farbigkeit fehlt. Grau ist alle Theorie. Doch der Alltag auch. Bei Rainer Wölzl ist das Grau zunächst das Grau vom Pergamon-Altar, aus dem Detailszenen in Vergrößerung erscheinen. Aber Pergamon ist nicht Geschichte, sondern geht weiter, frißt sich durch die Zeiten und schlingt Namen neuer, anderer Orte in sich hinein: “Pergamon [Somalia]”, “Pergamon [Plötzensee]”, “Pergamon [Kosovo]”. Einige Bilder kommen dem Betrachter ganz bekannt vor, vermutlich haben Agenturbilder als Vorlage gedient von anfliegenden Flugzeugen, vom Fallbeil in Plötzensee, aus Vietnam. Anderes wirkt stärker komponiert: die gedrängten Flüchtlinge auf einem Schiff (fast naiv gemalt, rasse- und gesichtslos) in der Arbeit ”Pergamon [Somalia]” oder der Zug der heimatlosen Menschen in ”Pergamon [Kosovo]”. Aber nirgendwo wird der Betrachter plakativ agitiert, die monochrome Malweise ist dafür zu zurückhaltend. Grau in Grau. Der schnelle Blick hat keine Chance, das Verstehen gelingt immer wieder nur über die Titel, die mitunter wiederum zum Nachdenken zwingen (oder zum Blick in den Katalog): Wer war noch Marcus Omofuma? Wo bitte ist Oberwart?
Wölzls Arbeit locken den Blick nicht, sie sind nicht schön, nicht einmal ästhetisch reizvoll oder ansprechend. Sie wollen zum Denken anregen und nötigen förmlich zum langsamen Blick, zum zweiten und dritten Hinschauen, vor allem zum Nachdenken, das mitunter mühevoll die Botschaft entschlüsselt durch schmerzliche Wiedererkennungseffekte. Punkt um Punkt und Name um Name webt sich das Netz einer Topographie des Schreckens, ein Netz dessen Knoten Orte des Terrors sind aus jüngster Vergangenheit und unmittelbarer Gegenwart. Und ein Name ist allen vorangestellt: Pergamon.


Der Fries des Pergamonaltars stellt auf einer Länge von 120 m bei 2 m Höhe den Sieg der Götter über die Giganten dar, die große Abwehrschlacht gegen die Söhne der Gaia, die – halb Schlange, halb Mensch – sich aufgemacht hatten, den Himmel zu stürmen. Das Thema ist also ein mißlungener Aufstand oder die gelungene Niederwerfung einer Revolte, ja nach der Perspektive. Aber die Götter errangen den Sieg nach dem Mythos nur, weil sie sich mit Herakles, einem Sterblichen verbündeten. Der fehlt freilich auf dem Fries. Wölzl setzt in seinem ”Pergamon” immerhin Herakles‘ Löwenfell ein leuchtendrotes Denkmal.
Der Pergamonaltar, die sakrale &Uml;berhöhung eines Klassenkampfes – so deuten Coppi und Heilmann, Peter Weiss‘ gebildete Arbeiteraktivisten das Kunstwerk, von dem sie ja nur monumentale Reste sehen. Der im 2. Jahrhundert Zeus geweihte Altar war zugleich ein Denkmal des Sieges der Stadt Pergamon gegen eine syrische Belagerung, Einzeichnung eigener Geschichte in die Welt des Mythos. Im 7. Jahrhundert aber wurde Pergamon zerstört, auch der gewaltige Altarfries. Seine weitere Geschichte ist die einer fortschreitenden Fragmentierung: Die Bruchstücke des Altares wurden als Baumaterial genutzt und zur Anlage von Verteidigungsanlagen, schließlich verfielen sie der Vergessenheit. Im 19. Jahrhundert wiederentdeckt, gesammelt und mit Erlaubnis des Osmanischen Reiches nach Deutschland verbracht, wurde den Fragmenten des Frieses mit dem Pergamonmuseum ab 1930 ein anderer Tempel unter dem neuen Vorzeichen der Kunst zuteil. ”Darüber aber war keine Klage zu verlieren, sagte Heilmann, denn die Verwahrung des Glanzstücks hellenischer Kultur in einem Mausoleum der modernen Welt war dessen spurlosem Begräbnis im mysischen Geröll vorzuziehn.” (Ä. d. W. I, 17)


So ist der Pergamonaltar selbst ein Symbol des Widerstandes, aber auch des Wechselspiels von Macht und der Ohnmacht, eine Sammlung von Fragmenten, um die ein prächtiger Museumsbau entstand, Zeugnis einer in sich zerrissenen Welt, deren innerster Herzschlag Gewalt und Zerstörung ist. Dieses Sinnbild des beschädigten Lebens bildet den Ausgangspunkt für Peter Weiss' hochentwickelte Reflexion über die Geschichte der politischen Widerstandsbewegungen in den 30er Jahren, über das Verhältnis von Kunst und Politik überhaupt. Rainer Wölzl schließt hier an, nicht illustrierend, sondern fortschreibend, und sein Versuch einer Aktualisierung des Weiss’schen Diskurses überzeugt durch seine reflektierte Geschlossenheit.
Die ”Ästhetik des Widerstands” ist Peter Weiss‘ letztes Werk, ein Spätling der Epoche der Revolte schon bei seinem Erscheinen, dann sehr bald durch den Umschlag der politischen Großwetterlage zu Unrecht dem Vergessen anheimgefallen. Um Wölzls Arbeiten zu verstehen, muß man Peter Weiss nicht gelesen haben. Aber immerhin könnten von dieser Ausstellung Anregungen zur (vielleicht erneuten?) Lektüre ausgehen. Der Roman beginnt ja unmittelbar mit einer Beschreibung des Pergamonfrieses, deren ungeheurer sprachlicher Kraft sich wohl niemand entziehen kann.


Das Grau Wölzls ist die Farbe der Moral. Die Farbe aus Schwarz und Weiß, eine Nichtfarbe aus Nichtfarben. Das Grau des Protestes gegen die schöne bunte Welt, die uns umgibt und die den Diskurs über Macht und Unrecht und Gewalt vergessen zu haben scheint. Rainer Wölzl, ausgestellt heute in Deutschland, ist ein unzeitgemäßer Künstler, ein Vertreter der vornachmodernen moralischen Sicht auf die Welt. Der Widerstand der sechziger und siebziger Jahre wird heute im historischen Museum besichtigt, die Träume von Sozialismus und einer nachhaltigen Besserung der Welt scheinen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks endgültig ausgeträumt. Ein Künstler wie Wölzl wird heute mit seiner Botschaft immer noch theoretische Zustimmung finden, aber die Zeiten sind eben andere. Wölzls ”Pergamon” zeigt indirekt, in welchem moralischen Niemandsland wir leben. Die schüchternen Versuche der Revolte sind nur noch eine blasse Erinnerung, und nun sitzen wir im Warteraum einer noch unbekannten Zukunft. Aber auch sie wird Moral nötig haben.


”Notwendig” – im heutigen Kunstbetrieb ist das fast ein vernichtendes Urteil. (Ebenso wie Literaturkanones nichts als Begräbnisplätze für Bücher sind.) Trotzdem: Der Besuch dieser Ausstellung ist nicht nur zu empfehlen, sondern fast notwendig. Wer sich Wölzls Bildern aussetzt, übt sich im langsamen Blick, und vielleicht ist der in unserer rasenden Bilderwelt schon der Anfang des Widerstandes.

 

Uwe Kühneweg, Marburg 2001
(www.philosophia-online.de)