Gefangen im Niemandskosmos

 

 

Die Passacaglia war im 17. und 18. Jahrhundert eine wichtige Gattung der Instrumentalmusik, die sich auf Variationen über einer ständig wiederholten Baßmelodie, dem basso ostinato, aufbaute. In der Neuen Musik hat sich, so kann man es im Brockhaus nachlesen, die Bedeutung des Begriffs verändert und meint nun die Allgegenwärtigkeit des Themas. Beide Ausformungen bzw. Ausdeutungen des Begriffes können auch auf die Serie "Passacaglia" von Rainer Wölzl in Anspruch genommen werden: die so betitelten Bilder variieren ein ostinates Thema, den aller Erotik entkleideten Paarungsreigen als höchste Anstrengung von Körpern, die nicht zeugen können, selbst da, wo sie ineinander gewachsen sind, und sie präsentieren dieses als ein allgegenwärtiges Thema, dem der Betrachter nicht entrinnen kann, weil den Sinnen wie dem Geist keine Fluchtmöglichkeiten gegeben werden. Im Gegenteil: je länger und intensiver man hinblickt und sich der Darstellung ausliefert, um so absoluter erscheint sie, auf den äußersten Punkt gebracht, ohne literarische Begleitmusik, auch ohne die tröstlichen Dämpfer, als die Assoziationen, wenn sie denn möglich wären, auch wirken können. Trotz der Akrobatik wird der Betrachter nicht zu Staunen und Zirkuswelt geleitet, sondern mit den Körpern festgehalten in einem zur Zeitlosigkeit zerdehnten Augenblick, dem alles fehlt, was wir uns unter Werden, unter Sterben, unter dramatischer Entwicklung vorstellen können. Für Lessing war der fruchtbare Augenblick das Stadium vor der endgültigen Erfüllung, angefüllt voll dramatischer Spannung, aber eben auch Hoffnung auf Befreiung aus dem Verstricktsein in kreatürlich menschliche Unzulänglichkeit und Zufälligkeit. Im humanen Idealismus der Aufklärung war dies ein Akt der Läuterung. Und selbst als die klassischen Konstellationen des Tragischen hier Gesetz, dort individuelles Aufbegehren im Subjektivismus ihre unerfüllbare Verkehrung fanden, daß nämlich das Gesetz sich im einzelnen erfüllen möge, war die Sehnsucht danach erfüllt von einer mehr und mehr morbiden, gleich wohl schöpferischen Dynamik. Bei Rainer Wölzl ist davon nichts geblieben als das lautlose, begriffslose Entsetzen am Rande des Todes. Und nicht einmal er lockt als Erlösung mit der Vorstellung, daß in ihm sich auch die höchste Form von Eros erfüllen könnte: die Körperfragmente, Arme Beine, Torsi, spannen sich mit größter Anstrengung auf einen Nullpunkt zu. Es offenbart kein Vor oder Zurück, sondern nur die Unerbittlichkeit einer höchsten Gespanntheit, die nicht einmal die Erstarrung als Aussicht zuläßt. Die Körper gerinnen nicht zu symbolischen Monumenten von Leid oder Vergeblichkeit, sondern sind aller Attribute entkleidet nacktes Dasein, das sich ohne erkennbaren Sinn selbst verzehrt. Anstatt zu zeugen, drohen sie zu verschwinden, aber auch hier nicht mit der Aussicht auf endgültige Auflösung. Die Bilder halten sie gefangen in einem Niemandskosmos, der sie gleichsam absolut setzt und keine Transformation zuläßt.

 

Am Ende des 20. Jahrhunderts hat für Rainer Wölzl das Menschenbild keine eigene, erst recht keine individuelle Qualität mehr. In einer verdinglichten Welt sind ihm keine spezifischen Empfindungen mehr anzutragen, die ebensolche Reaktionen auslösen könnten: Mitleid, Qual des Zusehen Müssens, Ohnmacht oder Hilflosigkeit. Die möglichen menschlichen Beziehungen sind ins Dingliche verkehrt, während gleichzeitig die Vorstellung vom Dinglichen immer fragwürdiger wird. Die Virtualität entzieht die letzten Reste traditioneller Standorthestimmung und Positionierung. Was als Ding zugleich Instrument wie Symbol der zivilisatorischen Entwicklung war, entschwindet in virtuellen Kommunikationsformen. Bald wird kein Telefon mehr visualisieren, daß jemand telefoniert. So wundert man sich nicht, daß bei den Serien "Haut" oder "Passacaglia" der dingliche Umraum fehlt, der letzte Möglichkeiten gewohnter Orientierung geben könnte, als sei hier noch Trost zu spenden. Die menschlichen Verhältnisse selbst entziehen sich jeder Qualifikation, indem sie alles Eigenleben, alle Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit verlieren. Schon 1983, so entnehme ich das einem Aufsatz von Jacqueline Rugo, hat Rainer Wölzl in einem "Traktat über die Malerei des Verschwindens" geschrieben: "Alles was ich sehe, mir auffällt, mir zustößt, ist bereits vergangen, so auch die Zukunft, die auf mich zukommt. Vergangenheit Vergehen Verschwinden. Was bleibt sind Spuren, ist die Erinnerung, das Auftauchen, das Erscheinen, das Auslöschen der Zeit zeitlos."

 

Der Maler unternimmt alle Anstrengungen, diese Diagnose weder als Klage noch als Pamphlet noch als Menetekel zu formulieren. Er hat die vielfältigen Versuche, doch noch ins Innere des Menschen zu gelangen und als eigene Substanz offenzulegen, abgestreift. Weder reklamiert er den Verlust im Kontrast zu paradiesischer Harmonie, wie der Reigen von Matisse sie noch artikulierte, noch collagiert er heillose Verstrickungen zwischen Emotionalität und Funktionalität, noch wirft er sich dem Unbewußten in die Arme, als könne dort noch Eigenart sich offenbaren. Mögen seine Körper in ihren manchmal seltsamen Verschmelzungen zu geschlechtslosen Torsi auch manchen an surreale Bildwelten erinnern: weder sind sie so literarisch generiert mit allen öffnungen zum Grotesken, Phantastischen hin, noch wollen sie das Vorrationale als Quelle neuen Erzählens aufdecken. In dieser Hinsicht ist Wölzls Bildwelt buchstäblich gnadenlos und ohne Halt.

 

Aber wir reden hier nicht über das Nichts, sondern über eine malerische Diagnose von begrifflos werdender Welt, die dem Verschwinden von Sinn in der Sublimität des Malens ein Höchstmaß an farblicher Intensität und Präsenz entgegenhält. Das Erinnern womöglich auch der Zukunft, das ständig zu verblassen und schließlich zu verschwinden droht, wird auf eindringliche Weise als ein farbliches Ereignis dargestellt, das wie Jacqueline Rugo das geschrieben hat seine beunruhigende Kraft "aus der Ambivalenz von einem besonderen Schrecken und einer besonderen Schönheit" bezieht, aus "einer Spannung zwischen dem malerischen Gestus und dem Beschriebenen." Das zur Monochromie tendierende Rot z.B. in der Serie seiner "Haut" Bilder konterkarierte bewußt das Verschwinden der Körper, hielt als sinnliches, intensives Malerlebnis fest, was inhaltlich sich offenbar jeder Kommentierung entzog. Wenn Körper sich schließlich nur noch auf Haut reduzieren und bar jeder Eigenart, aber auch der Zeit und dem Situativen entrückt erscheinen, so verwandeln sie sich doch in der Schicht um Schicht dünn, mal schlierig und fleckig, mal gesättigt aufgetragenen Farbe zum Malereignis. In der Farbe und durch Farbe entsteht eine vorbegriffliche Anschauung, die zur Deutung animiert, ohne doch schon bestimmte Wege aufzuweisen.

 

Die Farbe spielt auch in der neuen Passacaglia Serie eine ebensolche Rolle. Nicht glühend und wie von Leidenschaft durchtränkt, wo nichts weniger als Leidenschaft zu sehen ist, wie, im Rot der "Haut" Bilder. Die "untere Region des Todes", von der Kafka gesprochen hätte, stellt sich als fahler, schwefelig gelber, ins Dunkle wegtauchender Farbraum dar. Dieser animiert nicht durch seine Tonigkeit, sondern durch die ich gebrauche das Wort bewußt als Kontrastmittel Delikatesse der Farbentwicklung, durch den sublimen Farbaufbau, der einschließt Momente des Zufalls, wie sie sich durch die Laufspuren der Farbe ergeben. Wo nichts Halt bietet und den Körpern eine Chance bietet, sich aus ihrer äußersten Anstrengung zu lösen, ist dieses Nichts doch von höchster Nuancierung. Und wenn Farbspuren über Körper laufen und sie auf diese Weise langsam im Raum zu zersetzen beginnen, so sind es doch die gleichen Spuren, die in die Ewigkeit des Ausweglosen ein Moment von Zeit einbringen, die als Prozeß begreifen machen, was man schon als unabänderliches Fatum zu akzeptieren begann.

 

Je unfaßbarer das Geschehen, desto differenzierter, modulierter die farbliche Gestaltung. Hier stellt sich die eigene, durch kein anderes Medium zu ersetzende Qualität von Malerei dar, daß Erinnerungen und Visionen in ihrem Bildsein eine sinnliche Präsenz entwickeln, die Geist und Sinne auf eigene Weise beschäftigen. Malerei konstituiert Bilder, die außerhalb ihres Mediums bloß veredelte Comics wären. In diesem Sinne ist auch für Rainer Wölzl die Frage nach gegenständlich oder abstrakt völlig unerheblich, weil im Eintauchen der Körperformen in die Farbräume nichts Illustratives, das den Gegensatz gegenständlichabstrakt provozieren könnte, zurückbleibt. Das Motiv hat sich zum Bild gewandelt mit einer ihm eigenen Gegenwärtigkeit. Diese verhindert, was tendenziell als Gefahr aufscheint, nämlich das schließliche Verschwinden, das Eintauchen ins Nichts. So lassen sich diese Bilder dann anders lesen, nicht als Festschreiben von Wirklichkeit, als sei ihr anders nicht mehr zu begegnen, sondern als Aufschein von Möglichkeit, dessen fatale Konsequenzen der Künstler in demselben Augenblick, da er sie aufzeigt, immer auch mit seinen malerischen Mitteln bekämpft.

 

Lothar Romain, Berlin 2000
(Ausstellungskatalog des Kulturspeichers Oldenburg, 2000)