Er will und will nicht träumen: gegenüber seinem Vorhaben, das Reale zu übemehmen, ist der Traum ein Verrat. Und genau deshalb wird er sich in Träume stürzen: ist das, was man gleichzeitig begehrt und ablehnt, nicht das Böse?
Jean-Paul Sartre


Dispositive der Macht und die Häme der Verschränkung von Sexualität und Herrschaft

 

 

Ein Balkon an einem schönen gelben Haus mit grünen Fensterläden und einem hohen Gitterzaun - die feudale Fassung von Ruhe und Ordnung, Schönbrunnergelb mit schwarzem Gitter.

Doch Schönbrunn ist vorbei. Die Lumpenparade auch. Die Theatertruppe präsentiert sich auf dem Balkon. Ihre geilen Lieder sind verstummt. In ihren Augen sitzt der Schrecken über die Farce. Die Heldin des Volkes hängt mausetot über dem Geländer. Die Revolution ist vorbei, gescheitert, Illusion. Die Macht funktioniert anders.

Rainer Wölzl hat sich Genets Balkon-Stück ausgesucht, um akribisch Dispositive der Macht (Foucault) und die Häme der Verschränkung von Sexualität und Herrschaft zu bezeichnen. Macht-Repräsentanzen im Brennglas eines Bordell-Szenarios: Ein abgründiger Schattenriß, der ins Lächerliche zieht, aber ins Schwarze trifft. Klischees von Machtritualen und sexuellen Perversionen spiegeln Realität genauer wider als das persönliche Porträt eines Bischofs im Überfluß seiner Insignien.

Die Inszenierung von Macht in dieser Theaterinszenierung im Bordell läßt den Schmerz um den Verlust einer großen Illusion ahnen. Die Revolution muß scheitern, wenn sie sich bestimmter Sinnbilder der Macht bedient. Die Flagge der Freiheit oder der Segen des Bischofs bedeuten die Annahme des Machtrituals und den Tod der Bewegung. Ist Veränderung einzig als Chronik der Spiele von Lust, Gewalt und Schmerz denkbar?

Das Bordell bietet die Kostüme der klassischen Gewaltenteilung von Kirche, Justiz und Militär. Der vierte Kleiderbügel bleibt leer. Der wahre Machthaber, der alle im Griff hat, hat nicht die vermutete Gestalt. Ihn trotzdem zu erkennen, könnte seine Gewalt brechen. Doch wie soll man ihn erkennen, wenn ihn kein Alphabet der Insignien trifft.

Die Frauen sind die Instrumente der Bordellbesucher. Sie ermöglichen das Spiel der Täter, dienen ihrer kurzen Illusion von Macht und Geilheit, opfern sich, indem sie sich streng an die Rituale der Gewalt halten. In der Bordellkulisse verkehren sich die Welten. Der Gewalttäter ist in Wahrheit der zahlende Besucher. Die Frauen sind die professionellen Gauklerinnen männlicher Zwänge. Augenblicke der Macht im Abseits vorgeschützter Theatralik.

Der Bischof und die schöne Sünderin: das Traumpaar kirchlicher Gewalt. Er spricht das Gebet im Anblick ihrer Scheide. Er nimmt ihr tätschelnd die Beichte ab und onaniert dazu. Er posiert als eitler Christus am Kreuz im tänzelnden Trippelschritt. Beim Abendmahl liegt der Säbel auf dem Altar. Griffbereit sind Hammer und Nägel für die Kreuzigung, um sich nachher die Hände in Unschuld zu trocknen. Seine Segenshand wird zum Säbel der Enthauptung. Schließlich sackt er erschöpft vor dem Spiegel zusammen. Das Schauen hat ihn müde gemacht - und die Gier. Der Richter und die Diebin: das Lustpaar der Justiz. Sie soll nicht zu schnell gestehen, damit der stattliche Scharfrichter Gelegenheit hat, sie zu schlagen. Der nackte Hintern unter der Richterrobe leuchtet zum Zeichen seiner Lust an Erniedrigung. Der Blick auf die am Kreuz Gespreizte läßt ihn zur Säule im Talar erstarren. Beim Anblick der schönen Nackten quillt sein Nacken feist und rot unter dem Richterhut hervor. Fällt er höhnisch das Urteil, so zerteilt er die Menschen mit der Axt - wie einen Apfel - in Gut und Bös.

Der General und seine Stutenfrau: das Idol reitender Militärs. Er bezwingt sie mit seinem Riesenphallus und spiegelt sich bis in die Ewigkeit in seinem eigenen Spiegelbild.

In der Arena führt er sie stolz an der Longe und zügelt sie scharf im Salon, um mit Getöse den Feind zu erschlagen. Statt des Feindes sieht man nur seinen Hut auf dem Tisch und das Jackett über dem Stuhl: die Zeichen seiner alltäglichen Erbärmlichkeit. Doch auf den Stelzen markiert er den großen Schnitter, der mit gezücktem Säbel Herr über Leben und Tod ist.

Jenseits der Trias der Gewalten steht das Bild des armen Alten vor der strahlenden Folternden. Still gedemütigt hält er ein Sträußchen künstlicher Blumen vor seinem Penis, seine Augen fixiert auf die Scheide der Schlagenden.

Irma, die Bordellbesitzerin, wird die Königin!
Der rote Läufer führt zu ihrem Thronpodest und ein blauer Vorhang umfängt ihren alternden Leib wie ein Himmelsfirmament. Der Schatten am Rande ist der Lauscher an der Wand.

Nur einmal gibt es das Bild zweier Liebender. Verschmolzen zu einer Säule der Umarmung jonglieren sie auf Zehenspitzen. Im Angesicht der Soldaten vergeht ihr Glück. Sie wird geopfert und schwebt singend über dem Volk. Die Machthaber rotten sich drohend an ihrem Sarg. Ihr rotes Haar hängt heraus: Blut oder Leben, dichtes Vorhängegestrüpp? Vor ihrem Tod noch steht sie schreiend auf dem Balkon, eine einsame Ruferin über den Massen.

Resultat der Gewalt ist die Einsamkeit, gespiegelt im Bilde der nackten Körper und im Schlußzeichen des männlichen Genitals. Die Götzendämmerung am Kalvarienberg des Phallus verstrahlt die Last und das Kreuz der Heterosexualität. Auf dem Rücken einer Frau läßt er sich schleppen. Im endlosen Mauerring ist er errichtet und bleibt im Kreis von sich selbst gefangen. Erhebt er sich adlergleich in die Lüfte, dann nicht ohne Federn zu lassen. Sein Schatten am Boden ist arg zerrupft.

Im roten Bühnenraum bewegen sich Akte schweigend vor einem Vorhang. Ihre Schatten klumpen sich massig wie Tiere am Boden. Gesten und Blicke sind Reste einsamer Rollenspiele. Fixiert der Mann sein Genital, muß er im Schreiten verharren. Die Frau kniet hingebungsvoll in der Buße. Bietet sie ihren Körper an, muß auch sie im Bewegen erstarren. Die größte Illusion ist der Scheiden- und Schenkel- Ballon mit den kreisrunden Brüsten am Schnürchen des winzigen Anzugmanns.
Die große Verkehrung der Pietà steht an. Die rote Madonna packt zu. Die Augen geschlossen, das Gesicht halb verdeckt drückt sie den kindisch Verpackten kräftig an die wallende Brust. Der Nackte ist wie ein Täufling im festlichen Karo schützend verschnürt bis zum Kinn.

Es gibt dann noch die Fahnen: Zeichen im Kampf, im Krieg und im Aufstand. Das Bild der roten Fahne läßt keine Entscheidung mehr zu. Ist das der Spiegel im grünen Salon des Bordells, auf dem sich die draußen vorbeigetragene Fahne spiegelt, oder ist es ein Bild der Erinnerung am blauen Himmel vergangener Hoffnung. Ein düster bewegtes Blatt zeigt eine wehende Flagge hoch über den Köpfen des Volkes. Im Nachtschatten dann die schwarze Fahne der Anarchie. Delacroix' Freiheit wird angestarrt von einem am Boden liegenden Vermummten. Zwei Gestalten aus zwei Welten treffen aufeinander wie im Traum.

Der allmächtige Machthaber ohne Gestalt im Bordell wünscht sich Zeichen steinerner Macht, wie wir sie lange schon kennen. Immer noch gehören sie zur begehrenden Phantasie schattenloser Gesellen! Steht er schmächtig im Spiegelsalon, sitzt seine Uniform schon von selbst am Tisch. Er wird sich auf Stelzen nackt über die Kulissen erheben. Und seine Nacktheit warnt. Wir können ihn vor der Machtergreifung nicht erkennen? Er wird seine Kraft aus den Rollen des Richters, des Bischofs und des Generals ziehen. Sein Schatten wächst aus ihrem Verblassen. Er badet als Generalissimus im Meer aus Schleim und Blut der getöteten Menschen.

Und plötzlich liegt ein komisch amorphes Trumm mitten im Palast...
Für mich ist dies das Schlußbild von Rainer Wölzls Balkon - Blättern. Die Ordnung der roten Säulen bleibt gewahrt. Der Blick nach draußen verheißt Licht und Sonne. Aber dies Trumm von Stein liegt hier mitten drin.
Liegt eine Chance in der Verkehrung der Gedanken? Hat es Sinn, den riesigen Stein zu betrachten? Das ist kein verschmitzter Gruß von Sisyphus. Das ist eher das Wissen um den Widerspruch - in den Blickachsen.

Alexandra Pätzold, München 1989
(Ausstellungskatalog: Rainer Wölzl. Zu Jean Genet – Der Balkon, Galerie Jürgen Hermeyer, München; Vulkan Galerie, Mainz; Galerie Colmant, Brüssel 1989 )