Lautréamonts Nachruhm in der Kunst

 

 

Es ist bekannt, daß der Nachruhm Lautréamonts auf den französischen Surrealismus zurückgeht. Mit nicht zu übersehender Einseitigkeit beschlagnahmten Louis Aragon, André Breton und Philippe Soupault die "Gesänge des Maldoror" für den psychischen Automatismus, der als zentrale Definition des Surrealismus im ersten von Breton verfaßten Manifest erscheint. Sie gingen großzügig darüber hinweg, daß der epische Text Lautréamonts streng genommen kein Beweis für ein Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung 1 ist. Auf dieses Mißverständnis wies bereits Maurice Blanchot hin, als er die "wunderbar bewußte und zugleich seltsam unbewußte" Konstruktion des sprachlichen Labyrinths bei Lautréamont bemerkte, in dem Ironie, phantastische Kombinatorik und offensichtlich ein
"Verschleierungsverfahren" vorherrschen, "das für die Verwicklungen in den Volks- und Kriminalromanen typisch ist. Seine Sprache selbst wird eine geheimnisvolle Kabale, eine wunderbare Kombination von Vorgängen in der Art der Detektivromane, in denen die tiefste Finsternis im geeigneten Moment erhellt wird, unerwartete Ereignisse durch Metaphern ersetzt, ungewöhnliche Morde durch die Heftigkeit der Sarkasmen übertroffen werden." 2 Auch Jean Starobinski gibt zu bedenken, daß das "Denken mit reinen Modulationen, seiner öffnung auf das Mögliche hin, seiner reflexiven Geschmeidigkeit, seiner mit divinatorischem Tempo sich vollziehenden Beschleunigung ... sich erst auf der Grundlage integrierter und beherrschter Automatismen" entwickelt. Daher hätten wir es beim psychischen Automatismus der surrealistischen Doktrin "mit dem Gegenteil einer wahrhaften Befreiung des Individuums zu tun". 3

 

Die Entdeckung Lautréamonts durch die Surrealisten fiel in eine Zeit, als diese - nicht zuletzt durch die Methode der "freien Assoziation" bei Freud angeregt - einen "so rasch wie möglich fließenden Monolog" des Sprechens und Schreibens anstrebten, "der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie möglich gesprochener Gedanke (pensée parlée) wäre." 4 Die von André Breton und Philippe Soupault 1919 zusammengestellte Montage ihrer Monologe (unter dem Titel "Les champs magnétiques") zeigt indes, daß auch hier nicht nur zusammenhanglose Satzfetzen und Bilder herausgeschleudert werden, sondern daß die spontan produzierenden Autoren sich durchaus an die Regeln der Syntax beim Satzbau gehalten haben. Zweifellos herrschen Satzfragmente und isolierte Bilder wie ihre alogische Verknüpfung vor, doch gleichzeitig sind die syntaktischen Regeln befolgt. 5 Auch in dem von Breton und Soupault angestrebten Zustand der Passivität (état de plus passif, ou réceptif, der jener von Freud in der "Traumdeutung" für die Produktion freier Assoziationen postulierten "kritiklosen Selbstbeobachtung" entspricht, "bleibt das Denken - wie vage auch immer - auf er­ was gerichtet". 6 Bei allem "Verzicht auf Verknüpfung zwischen den einzelnen Sätzen" oder trotz "pseudologischer Verknüpfung" der Sätze und ausgesprochen absurder Aussagen läßt der surrealistische Text der "Magnetfelder" eine "Sinnstruktur" erkennen, eine Transposition des Logischen ins Phantastische. 7 Von hier aus ließe sich der Surrealismus auch als eine Geschichte des gescheiterten psychischen Automatismus schreiben.

 

Bei aller Kritik an der Doktrin vom psychischen Automatismus, der in den Bereich des Okkultismus und der Parapsychologie abgleitet, sollte der ursprüngliche Anlaß nicht vergessen werden, der die Surrealisten zur Entdeckung und Huldigung einer unbewußten Gestaltung, eines Selbstausdrucks vor aller künstlerischen Formbestimmtheit geführt hat. Sie erhofften sich ein Instrument der Befreiung vom institutionalisierten Denken nicht nur in Literatur und Kunst, sondern auf allen Ebenen eines realitätsangepaßten, arbeitsteiligen Lebens, das vom Potential zweckfreier, anarchischer Phantasieproduktion abgeschnitten ist. Die "Gesänge des Maldoror" erschienen als kulturell unzensierte, freie Emanationen eines autonomen Bewußtseinsstroms, die zwangsläufig zu einem Zusammenstoß mit den etablierten Wertendes Wahren, Guten und Schönen führen müssen. Die vielen ins Negative gewendeten Schönheitsdefinitionen, darunter jene prominente, oft wiederholte: "schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch", machten Lautréamont (neben Rimbaud) zum Vorreiter einer Revolte, die in ihrer dadaistischen, protosurrealistischen Startphase die radikale Verneinung und Zerstörung bürgerlicher Werte und Traditionen anstrebte. Die Taten Maldorors verkörpern auf eine allegorische Weisedie Umkehrung der höchsten Ziele menschlichen Strebens in die Lüge, das Böse und Häßliche. Die Freude und Berechnung, mit der Maldoror (mal d'aurore) dem Hang zum Bösen folgt, treibt ihn ins hedonistische Extrem des Lustmordes. Lautréamonts Schönheitsdefinition kann als Gleichnis dafür gelesen werden, worauf Michel Carrouges hingewiesen hat. Der Schönheitsvergleich, das "beau comme", richtet sich auf die Opfergestalt Mervyns, der in der "zufälligen Begegnung" mit Maldoror auf seinen späteren Lustmörder trifft. "Der Regenschirm als männliches Symbol kann sich nur auf Maldoror beziehen. Die Nähmaschine verweiblicht die Vorstellung, die man von Mervyn hat. Selbst die Namen haben einen Doppelsinn. Maldoror ist vor allem Mann. Mervyn ist ein Anagramm von Vermine (Ungeziefer), die erste Silbe erinnert zudem an mère (Mutter). Der Seziertisch deutet auf die spätere Hinrichtung von Mervyn durch Maldoror hin." So weit der von Carrouges stichwortartig zusammengefaßte Inhalt des sechsten Gesanges. 8

Im Lustmord, in der surrealistischen Ästhetik des Verbrechens, kulminiert eine verzweifelte nihilistische Revolte, die lieber die Zerstörung und das absolute Nein wählt als ein Leben zu akzeptieren, das so ist, wie es vorgefunden wird. Albert Camus erachtete sie als tragisch, weil sie die Selbstvernichtung der Revoltierenden einschließt. Gleichwohl mußte er anerkennen, daß die "Zurückweisung alles Determinierenden" die surrealistische Art die Welt zu lieben ist. 9 Dem "homme révolté" im Surrealismus mußte jede Sabotage der etablierten Werteordnung, sei es durch Ironie, Parodie, Schwarzen Humor, psychischem Automatismus oder das Fest des Absurden herbeigeführt, als Befreiungsakt von großer Wirkung erscheinen. Was Breton und die Surrealisten bei Lautréamont vor­fanden, ein "Prinzip dauernder Verwandlung", 10 bestärkte sie, ihren eingeschlagenen Weg fortzusetzen. "Was die anfängliche Weltanschauung der Surrealisten mit der Grundeinstellung Lautréamonts und Rimbauds gemein hatte und was für alle Zeiten unser Schicksal an das ihre band, war die Abscheu vor dem Krieg, der Defaitismus", und Breton fährt fort: "Für uns gab es nur noch eine Möglichkeit: eine unwahrscheinlich radikale, schonungslos durchgreifende, keinen Lebensbereich auslassende Revolution ... Diese Weltanschauung liegt eigentlich allen Maßlosigkeiten zugrunde, die man uns vorwerfen mag." 11

Dieses anarcho-dadaistische Denken im Schatten des ersten Weltkrieges, das mit seiner breit angelegten Zivilisationskritik auch jede Kunst und Literatur einschloß, wurde den Surrealisten um Breton bald zu einseitig und unstrukturiert. Ihr Bruch mit Dada erfolgte 1922, als Tristan Tzara den geplanten "internationalen Kongress zur Festlegung der Richtlinien und zur Verteidigung des modernen Geistes" boykottierte und jeden konstruktiven Ansatz zur Bestimmung einer experimentell fundierten surrealistischen Anschauung ablehnte. In diese Aufbauphase des Surrealismus, die im ersten Manifest von 1924 gipfelt, fallen die Experimente mit dem psychischen Automatismus und die Rezeption Lautréamonts. Paradigmatisch für ein Bild, "das von einem höchsten Grad von Willkür gekennzeichnet ist" und "für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen", zitiert Breton auch einen der absurden "Schön-wie-Vergleiche" aus den "Gesängen des Maldoror": "Schön wie das Gesetz des Entwicklungsstillstands der Brust bei Erwachsenen, deren Hang zum Wachstum in keiner Beziehung zu der Menge der Moleküle steht, die ihr Organismus assimiliert." 12

 

Die Entdeckung Lautréamonts lag zu dieser Zeit noch unter der Schwelle literarischer und künstlerischer Gestaltung. Im Namen einer Kreativität, die jedem Menschen zugänglich ist und die gegen die Trennung von Kunst und Leben, "Poeten und Nicht-Poeten" protestiert, 13 wurde Lautréamonts Maxime "La poésie doit étre faite par tous, non par un" 14 hoch aktuell. Hier wurde eine Brücke zur surrealistischen Kollektivität des Schaffens gesehen, die nicht mehr "unter der Herrschaft der Logik" und des "absoluten Rationalismus" steht, sondern "bis dahin vernachlässigte Assoziationsformen, ... die Allmacht des Traums, ... das zweckfreie Spiel des Denkens" in das Bewußtsein einbezieht, um zu einer ganzheitlichen Erfahrung der ästhetischen Formgesetzlichkeit mit der automatischen Produktionsweise zu gelangen. Daher findet sich an zentraler Stelle im Manifest Bretons der Hinweis auf "die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität". 15

 

Es geht weder um die Auflösung der Realität in den Traum, noch um die Transformation des Wach- in den Schlafzustand. Das wäre die Wiederholung der alten Dualität von Traum- und Vernunftform. Statt dessen ist ihre Koppelung in einem Bewußtsein angezeigt, das der "Fiktion von einem Einheit stiftenden ästhetischen Ich" oder einer Traum- und Wachzustand synthetisierenden vernünftigen Persönlichkeit nicht abermals aufsitzt.16 Elisabeth Lenk hat in den "Chants de Maldoror" (wie in den zeitgleichen "Alice's Adventures in Wonderland" von Lewis Carroll) den Beginn einer neuen "traumartigen Literatur" gesehen, die das distanzierte, aus einer Gesamtperspektive kommende Erzählen tendenziell aufhebt. Der Autor löst sich in die Vielheit der beschriebenen Gegenstände und Figuren auf. "Der Riß, der im realistischen Roman zwischen dem mehr oder weniger allwissenden, mehr oder weniger ironischen Autor und dem ganz in die Schicksale des Romans befangenen Helden verlief, geht jetzt durch den Autor und durch alle Figuren mitten hindurch." 17 Lautréamont ist in den proteischen Gestaltwandel seiner Figuren und Geschöpfe einbezogen, er hat keine Aussicht auf eine objektive Orientierung jenseits der erzählten wachtraumartigen Effekte, Verdichtungen, Groteskkoppelungen und halluzinatorischen Bilder, "die noch intensiver als bei Rimbaud an deliröse und echt psychotische Zustände erinnern". 18 Lautréamonts "Sprachrevolution" ist als Ausdruck einer Anziehung der Worte vom Pol des Traumes her" zu verstehen. Er arbeitet mit der Nichtidentität von Sprache und Gedanke, sinnlicher Wirklichkeit und Ideal, "sozusagen mit dem Bildkern der Worte", was die große Faszination auf die surrealistischen Maler, voran René Magritte mit seinen Zeichnungen zu den "Chants de Maldoror" (1948) erklären könnte. Auch Magritte verstand das Mysterium, die Poesie, in Lautréamonts Erfindung der "zufälligen Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch" als ein Auseinandergehen von Bild und Bedeutung oder Symbol, das man nicht illustrieren könne. 19 Das "Ketzerische" einer traumartigen Schreibweise, für die es in der surrealistischen Zeichnung und Malerei viele Parallelen gibt, ist "die Darstellung des Schwankenden, Labilen, Lebendigen, mitten in einer vom Kult der Exaktheit besessenen Welt, die Darstellung von Wesen, deren äußere Erscheinungsform permanent wechselt, ohne daß irgendeine der Gestalten sich als die wahre, die richtige, identifizieren ließe. Jedes Teil lebt, existiert für sich, lebt ein autonomes Leben. Die hierarchische Wertordnung der Wachwelt ist aufgehoben." 20 Die Regressionen des Traumerlebens stehen nicht mehr im Dienst einer integralen Ich- und Welterfahrung. Die "geträumte" Sprache in den Gesängen Maldorors ist das Gegenteil von Selbstbeherrschung oder einer intellektuellen Disziplinierung, wie sie die Psychoanalyse gegenüber dem Unbewußten einübt. Die surrealistische Einstellung, für die Lautréamont sogleich beschlagnahmt wurde, besteht grundsätzlich darin, das Es gegen jede Zensur und Kontrolle des Ich zu stärken. Zwischen dem Freudschen Rationalismus (wo Es war, soll Ich werden) und Bretons öffnung zum "wunderbaren" (der hierarchielosen Vermischung von Traum und Wachzustand) gibt es letztlich keine Verständigung und Kooperation. Die surrealistische Erkenntnismethode ist keine praktisch angewandte Psychoanalyse. Diese ist vielmehr von der surrealistischen Revolte, einer anarchischen Einstellung, die den Traum und umstrittenen psychischen Automatismus zum Selbstzweck erhebt, ausgeschlossen.

 

Die Anfänge einer Wirkung der "Chants de Maldoror" auf die bildende Kunst des Surrealismus sind noch kaum erforscht. Lautréamonts "Poesie" wurde zunächst von einigen Surrealisten im Rahmen einer allgemeinen Bildtheorie diskutiert und blieb auf die Anregerrolle für eine neue Schreibweise beschränkt. Bretons oben wiedergegebenes Zitat eines "Schön wie"-Vergleiches aus den "Chants de Maldoror" im Manifest von 1924 stellte ungewollt die Weichen für eine verkürzte, rezeptartige Lautréamont-Rezeption, die es auf die absurde Koppelung nicht zusammenpassender Elemente, einen Verdichtungsvorgang in Analogie zum Traum und psychischen Automatismus abgesehen hatte. Den Ergebnissen der Sprachexperimente in den 1919 veröffentlichten "Champs magnetiques" stand nichts Vergleichbares in der Zeichnung und Malerei gegenüber. So behauptete Max Morise 1924 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift "La Révolution Surréaliste" die "Unmöglichkeit einer automatischen Malerei und infolgedessen einer surrealistischen Malerei." 21 Noch in der dritten Nummer dieser Zeitschrift konnte Pierre Naville ein Jahr später schreiben: jedermann weiß, daß es keine surrealistische Malerei gibt. Weder die Spuren des befreiten Zeichnens zufälliger Gesten, noch das Bild neuer Traumfiguren, noch die erfinderischen Phantasien, können recht verstanden so bestimmt werden." 22

Diese Kritik bezog sich nicht zuletzt auf die in den beiden ersten Ausgaben publizierten automatischen Zeichnungen von André Masson, die wie in Trance schnell hingekritzelt anmuteten und Bretons Anleitungen aus dem surrealistischen Manifest folgten. Rasch gezeichnete abstrakte, arabeskenhafte, bis an die Ränder des Blattes sich ausdehnende Linienmuster überschneiden sich mit gegenständlichen Fragmenten, die meist aus isolierten Körperteilen und Gliedmaßen bestehen. Mit der Doktrin vom "automatisme psychique pur" hoffte Masson, seine Affekthandlungen und sexuellen Aggressionen auf dem direktesten Wege umzusetzen. Der automatische Zeichenfluß wurde weder unterbrochen noch korrigiert. Dieser Methode ist Masson in seinen gleichzeitig entstandenen "Sandmalereien" nicht gefolgt. André Masson und Miró, die später maßgeblichen "Automatisten", machten 1924 gerade erst eine Wandlung vom Kubismus zu einer freieren, abstrakten Zeichen- und Malweise durch. Miró, der von Masson im gleichen Jahr in den surrealistischen Kreis eingeführt wurde, begann um 1925 mit automatischen Zeichnungen, Masson sogar erst Ende 1926. Max Ernst systematisierte um 1925 die halbautomatische Technik der Frottage, das Durchreiben von Mal- und Zeichenflächen, die er mit bewußt komponierten Zeichnungen kombinierte. Die 1926 erscheinende "Histoire Naturelle" ging aus dieser Erfindung hervor. Damit war der künstlerische Weg für eine "écriture automatique" geebnet, wenn man nicht bereits die ab 1922 entstandenen Collage-Zyklen als ein von Rimbaud und Lautréamont angeregtes halluzinatorisches Montageverfahren ansehen will. Max Ernst gab den Anstoß für zahlreiche weitere halbmechanische Herstellungsverfahren, die in der Folge vom Surrealismus künstlerisch erschlossen wurden. Erinnert sei an die Décalcomanie, Flottage, Décollage, Grattage, Fumage, Cachetage oder das auch schon von Ernst eingesetzte Dripping.

 

Der Wandel des Surrealismus von einer universalen Weltanschauung und "manière de penser"zur Kunst im engeren Sinne vollzog sich programmatisch und endgültig erst in Bretons 1928 publi­zierter Aufsatzsammlung "Le Surréalisme er la Peinture". Hier wurde an Beispielen von Arp, de Chirico, Duchamp, Ernst, Klee, Masson, Miró, Man Ray und Tanguy eine folgenreiche Erweiterung des psychischen Automatismus und des Traums auf die Malerei vorgenommen. Der Gesichtspunkt der geistigen Kontrolle, der intellektuell gelenkten Inspiration, wurde - wenn auch geläutert durch die Experimente mit der freien Assoziation -rehabilitiert. Man kann sagen, daß der Theoretiker der Revolte durch die Praxis der surrealistischen Künstler belehrt wurde, die ihrerseits mit der These vom reinen Automatismus experimentierten.

 

Dies ist an der Arbeitsweise der frühen "Automatisten" Miró und Masson ablesbar. In einem Gemälde wie "Die Entstehung der Welt" (1925) verzichtete Miró erstmals auf kompositorische Vorzeichnungen und überließ sich in diesem ersten Stadium bei Ausnutzung aller Zufälle den schnell dahin fließenden Farbformen. In einem zweiten Arbeitsgang wurden die informellen Gründe, das teilweise mit Lappen und Schwamm aufgetragene Farbmeer, in eine strukturierende Ordnung überführt, womit der Genealogie der Form aus dem Chaos auch noch ein gleichnishafter Aspekt abgewonnen wurde. Im "Karneval des Harlekins" (1924-25), Mirós bekanntestem Bild aus dem surrealistischen Frühwerk, bewirkten die miteinander verketteten biomorphen Einzelformen schon jene typische surrealistische Poesie, die nach Lautréamont aus der Verbindung des Unzusammengehörigen entsteht. Das zu diesem Bild entstandene Gedicht Mirós zeigt beider Entstehung aus der Quelle des psychischen Automatismus: "Der von den wie Harlekins aus Rauch verkleideten Katzen entwirrte Garnknäuel windet sich um meine Eingeweide und durchsticht sie während der Hungersnot die die in diesem Bild registrierten Halluzinationen erzeugte schönes Blühen von Fischen in einem Mohnfeld auf den Schnee eines Papiers gezeichnet ..." 23 Ausdrücklicher als Miró hat sich Masson für seine halluzinatorischen Formverschmelzungen und dissoziierten Körper von den Phantasien Lautréamonts und Rimbauds anregen lassen. In seinen ab 1926 entstandenen Fisch-Bildern sind häufig Neomorphismen aus Mensch und Tier mit vexierbildartigen Körpern und vieldeutigen Konturen zu bemerken, eine kämpfende Misch-Kreatur, die über die allgemeine, für Masson reklamierte Metaphorik von Eros und Todestrieb hinaus in der monströsen Amphibienwelt Maldorors beheimatet ist. Im "Kampf der Fische" von 1927, einer seiner frühesten Sandmalereien, bestehend aus öl, Sand und Bleistift auf Leinwand, kehrte Masson das Verhältnis von Automatismus und Kontrolle um. Im ersten Arbeitsgang unterlag das Auftragen der Sandfelder auf dem geleimten Untergrund einer streng geplanten Prozedur und erst anschließend wurden die teils abstrakten, teils figürlichen Motive in einer frei flottierenden Linienschrift um die Sandfelder herum aufgetragen. Aus den gewundenen unregelmäßigen Lineamenten entstanden kämpfende Fische in einer Unterwasserwelt, sodaß diese Anmutungen als Titel übernommen wurden. Farbkleckse, zumal rote, erschienen als Blutflecken.

 

 Dieses "geträumte" Bild läßt zwei unterschiedliche Lesarten zu. Entweder als die Rückkehr des Verdrängten und Zensierten im Sinne der surrealistischen Befreiungstheorie oder als Kampf ums Dasein, als die entlarvende Groteske des dämonisierten Sozialdarwinismus. Lenk hat Lautréamonts Traum nicht als Wunscherfüllung gedeutet, sondern erkennt in ihm die "elementarere lebenswichtigere Funktion" der "Enthüllung und dadurch psychischen Realisierung desjenigen Teils der Wirk­lichkeit, der unter gesellschaftlichen Imperativen nicht wahrgenommen werden darf, weil er im Widerspruch zu dem Bild steht, das die Gesellschaft von sich selber hat." 25

 

Im vierten Gesang des Maldoror ist das menschliche Wesen der Metamorphose in einen delphingroßen Fischkörper mit Rückenflossen und breiten Entenfüßen anstelle der Extremitäten der Beine und Arme unterworfen. Im zweiten Gesang paart sich Maldoror mit einer Haiin, "meiner ersten Liebe". Der angsteinflößende "alte Ozean" ist sein "Hochzeitsbett" und ein Element, wo das "Gesetz des Stärkeren" gilt. "Das Blut vermengt sich den Wassern und die Wasser vermengen sich dem Blut." 26 Die Begegnung Maldorors mit der Haiin gipfelt in der satanischen Erkenntnis: "Ich lebte bis jetzt im Irrtum; da ist einer, der böser ist als ich." Der starke Mensch erscheint hier als Widersacher des Guten. Lautréamont hat ihn mit "viel grausamer Lust" und in nietzscheanischer Manier mit einem obszönen Willen zur Macht ausgestattet. Dies ist nicht affirmativ gemeint, sondern wäre in der Lesart Lenks als traumförmige Kritik an der Gesellschaft zu deuten, die ihr wahres Gesicht verhüllt und das erlaubte Böse maskiert. "Die traumartige Literatur deckt etwas auf, was die realistische' Literatur verschleiert, die immer nur das erlaubte Bild: die Sozialfassade reproduziert." 27 An dieser surrealistischen Konvergenz von Lautréamont und Masson, die die Enthüllung über die Wunscherfüllung stellen, werden die späteren künstlerischen Bearbeiter der "Chants de Maldoror" zu messen sein.

 

Die Wirkung Lautréamonts auf den entstehenden Surrealismus wird zu Recht mit der Giorgio de Chiricos verglichen, dessen (gemeinsam mit Carlo Carrà begründete) "Pittura Metafisica" um 1919, also noch vor dem Enstehen der surrealistischen Bewegung, beendet war. Beide konvergieren in der grotesken Montage des Disparaten, wobei der Maler und in seiner Nachfolge die mehr oder weniger veristische Traummalerei der Surrealisten Dalì, Delvaux, Ernst, Magritte und Tanguy den Akzent auf die Verrätselung und Verdunklung der Wahrnehmungswelt setzten. De Chirico gelangen Verfremdungseffekte, die Man Ray als erster auf dem Gebiet der Objektmontage und Fotographie systematisierte. De Chirico befreite die Dinge aus ihrem Zweckzusammenhang und ordnete sie auf eine alogische, absurde, irrationale Weise neu. Die Weise, wie er die Dinge ihres Realitätsgehaltes beraubte und zu neuen bedeutungsschwangeren Einheiten, häufig ganzen Assoziationsketten zusammenfügte, ließ seine Gemälde wie "Die beunruhigenden Musen" (1916) oder "Der große Metaphysiker" (1917) als stimmungshafte bildnerische Äquivalente zu den "Chants de Maldoror" erscheinen. De Chirico wurde als protosurrealistischer Traummaler verstanden, der auf die Mechanismen zurückgreift, nach denen unbewußte Vorgänge funktionieren und die Traumarbeit mit der Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung ihres Materials operiert.

 

Eine sehr frühe Lautréamont-Rezeption findet sich bei Man Ray. Schon im Jahr seiner Übersiedlung von Amerika nach Paris, 1921, stellte er sein absurdes Bügeleisenobjekt "Cadeau" vor, auf dessen Bügelfläche eine Reihe Polsternägel aufgeschweißt ist. Die surrealistische Montage des Disparaten wurde auch auf den Titel übertragen: wird "Cadeau" von hinten nach vorn buchstabiert, spricht man "audace" (kühn). Man Ray übertrug den psychischen Automatismus auf die Objektmontage, die in Photographien festgehalten wurde. Diese dienten aber kaum zur Dokumentation des Originals, sondern als Assoziationsvorlage für den Betrachter, der nach surrealistischem Verständnis sich von kulturell eingebleuten Seh- und Darstellungsweisen befreien sollte. Es war die Lektüre der "Chants de Maldoror" und vor allem wohl der Satz über das groteske Ensemble von Nähmaschine und Regenschirm auf einem chirurgischen Seziertisch, was Man Ray zur photographischen Aufnahme eines verpackten, unsichtbar gemachten Objekts inspirierte, das er in Anlehnung an Lautréamonts bürgerlichen Namen "Das Rätsel des Isidore Ducasse" (1920) nannte. Unter der Verschnürung des Pakets befindet sich ein Objekt, das nur der Künstler kannte und dessen Geheimnis er für den Betrachter bewahrte. Wenn man will, war dies eine Art Projektionstest, der den ratenden Betrachter mit seinen Wunschvorstellungen, möglicherweise seinem verdrängten erotischen Verlangen konfrontierte. Jedenfalls gab Man Ray im Photo ein unbestimmtes, vieldeutiges Objekt vor, das auch als erotisch anziehender Gegenstand wahrgenommen und in freier Assoziation von den Betrachtern interpretiert wurde. (Heute wissen wir, daß das verschnürte Paket eine Nähmaschine enthält). Die Veröffentlichung des reproduzierten Objekts in der ersten Ausgabe von "La Révolution surréaliste" (1924), wo es zwischen Traumprotokollen placiert ist, unterstreicht die programmatische Gleichsetzung von Surrealismus und Automatismus. Freuds Methode der "freien Assoziation" stand für die vielen zwischen 1917 und 1970 entstandenen, ihrer psychotherapeutischen Funktion freilich beraubten Rätselobjekte Pate. Man Ray hatte sich zur Rolle des psychischen Automatismus in der surrealistischen Produktion klar bekannt. Jede vom Verlangen getriebene Anstrengung kann nur durch eine automatische, unbewußte Energie zum Ziel gelangen. Die Kraftreserven in uns sind unerschöpflich, wenn wir sie nur ohne Scham- und Anstandsgefühl heranziehen." Dieses zu überlisten oder auf andere Weise zu sabotieren, ist der Sinn der surrealistischen Revolte. Der das erotische Verlangen, "lange unterdrückte Motivationen und Instinkte" ins helle Licht rückende Künstler ist ihr Agent. 28

 

Lautréamont ist neben de Sade der literarische Initiator der Triebentfesselung in der surrealistischen Revolte. Er ist aus ihren paranoiden Bildern und halluzinatorischen Phantasien nicht wegzudenken. Die Kunst ist davon nicht ausgeschlossen, nicht die zeichnenden Kleinmeister Artaud, Bellmer, Michaux, Magritte (mit seinen erst 1948 entstandenen 76 Zeichnungen "Les chants de Maldoror") oder Wols - und nicht ein megalomaner Exhibitionist wie Dalí.

Dieser hat sich zwar nur in einem einzigen, allerdings opulenten, 52 Blatt zählenden Radierzyklus von 1934 auf die "Chants de Maldoror" direkt bezogen, aber sein gesamtes Werk ist im Grunde eine Ode an die Alchemie Lautréamontscher Mischwesen und "Substanzverwandlungen" (Julien Gracq). Das Collagen-Werk von Max Ernst wäre nicht denkbar gewesen ohne die Lektüre der aggressiven Zerschneidungen, Durchdringungen und Vermischungen der Lebewesen in den "Chants de Maldoror". Es war Max Ernst, der Lautréamonts prominentes Montage-Diktum in seine Autobiographie aufnahm und mit seiner Hilfe fast eine, wie es heute scheint, Lehrbuch-Definition der surrealistischen Collage gab: sie sei "die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene - und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt". 29

 

Die systematische Ausbeutung des Zufalls war überdies ein Bekenntnis zum psychischen Automatismus Bretons, den Ernst und andere nun von der bildnerischen Seite her aufrollten, um zur "peinture automatique" zu gelangen. Auch hier lag der Akzent anfangs auf einer Poesie, die von allen gemacht werden könne und nicht von begnadeten Künstlern. Die surrealistische Demontage des bildungsbürgerlichen Schöpfungsmythos, der Kreativität auf Genie und Talent zurückführt, konnte sich daher abermals an Lautréamonts Devise zum kollektiven Ursprung der Poesie halten. Max Ernst hat sie zusammen mit dem Theorem vom psychischen Automatismus in seine zentrale Surrealismus Definition von 1934 aufgenommen. "Da jeder ,normale' Mensch (und nicht nur der Künstler) bekanntlich im Unterbewußtsein einen unerschöpflichen Vorrat an vergrabenen Bildern trägt, ist es Sache des Muts oder befreiender Verfahren (wie der automatischen Schreibweise) von Entdeckungsfahrten ins Unbewußte unverfälschte (durch keine Kontrolle verfärbte) Fundgegenstände (,Bilder') ans Tageslicht zu fördern, deren Verkettung man als irrationale Erkenntnis oder poetische Objektivität bezeichnen kann, nach Paul Eluards Definition: ,Die poetische Objektivität besteht einzig in der Verkettung aller subjektiven Elemente, deren Sklave -und nicht Herr - der Dichter bis auf weiteres ist.' Woraus hervorgeht, daß der ,Künstler' fälscht." 30

 

Lautréamonts Nachruhm in der Kunst, dem kein Ruhm zu seinen Lebzeiten - weder in der Literatur, noch in der Kunst - vorausgegangen war, blühte und gedieh mit der surrealistischen Revolte und hat sie überlebt. Man sagt nichts Neues mehr, wenn daran erinnert wird, daß die experimentelle Grundeinstellung des Surrealismus gegenüber dem Unbewußten, dem psychischen Automatismus und Traum vielfach gebrochen, korrigiert oder neu aufgelegt weiterlebt und das Projekt der Moderne ein unendlicher Prozeß der Bewußtmachung verdrängter Inhalte ist. Es findet seine Fortsetzung in den neuexpressionistischen Rückblenden der zweiten Jahrhunderthälfte, in den Vergleichen von Kunst und Primitivismus, Art Brut und Art Culturel, in der ethnopsychiatrischen Ästhetik, der Kreuzung und Vermischung der Kulturen, einem naiven künstlerischen Nomadentum, das sich neben dem Markt entwickelt. Mit Lautréamonts Extremismus fand also nicht der überaus nützliche "gründliche Kehraus" der Pubertätskunst statt, den Ernst Robert Curtius für die nächste Generation erhoffte. Seine Polemik gegen Lautréamonts Gesänge, die "eine ununterbrochene Folge von sadistischen Phantasie-Exzessen" seien, wo "so wenig wie zwischen Schön und Häßlich ... zwischen Geisteskraft und Psychose ein Unterschied erlaubt sein" soll, "Schizophrenie ... für den Dichter wichtiger als Grammatik" 31 werde, erscheint heute veraltet.

 

Recht behielten Artaud, Gide, Gracq, Henry Miller oder auch Wolfgang Koeppen, die die Moralität hinter der Modernität erkannten und den Einfluß des "poète maudit" bis auf Samuel Beckett ausdehnten. Lautréamont erscheint im deutschen Sprachraum, vor allem bei den bildenden Künstlern, wohl durch die Sprachbarriere bedingt, in einem weniger strahlenden Licht als in Frankreich. Welche Wirkungen sein erstmals 1954 (dann 1963, 1976, 1985 und 1988) ins Deutsche übertragenes und veröffentlichtes Gesamtwerk auf die mittlerweile internationalisierte Kunstszene hat, ist schwer zu übersehen. Welche Künstler haben sich so offen zu Lautréamonts Gesängen und Dichtungen bekannt wie der Maler und Texter des "Pandämoniums" (1961/62), Georg Baselitz? 32

 

Von dem Wiener Rainer Wölzl, der schon von Celan, Genet und Beckett bemerkenswerte graphi­sche Interpretationen vorgelegt hat, entstanden im Verlauf eines Pariser Studienaufenthalts 1991 über zweihundert Zeichnungen in Kohle und öl auf Papier, von denen neunzig hier in Buchform veröffentlicht sind. Der Druck ist nur eine Annäherung an das Eigenleben der Originale, die dem auf Schwarz und Weiß beschränkten zeichnerischen Dialog ungewöhnliche koloristische Reize abringen können. Auf den jede Oberfläche einebnenden, weil zum Glänzen bringenden Graphit wurde verzichtet. Die Kohle ist mit dem Stift und in pulverisierter Form aufgetragen, transportiert eine nuancierte Tönung zwischen Elfenbeinschwarz und bläulichem Schwarz auf den weißen Grund. Die pulverisierte Kohle zusammen mit der verdünnten fließenden ölfarbe läßt die Farbe aufgelockert und in einem aperspektivischen Tiefenraum teils schwebend, teils wirbelnd, in sich kreisend oder linear treibend, spritzend oder tropfend an der Grenze zur Monochromie erscheinen. Hier sind Oberflächenreize des Materialbildes, mit dem Wölzl als Maler experimentiert, sublim in den zeichnerischen Prozeß einbezogen. Die so vertiefte, unruhige Fläche findet ihre schönste Entsprechung in Maldorors Hymne an den "alten Ozean" in seiner "materiellen Größe" und "tätigen Kraft", die zur Entfaltung seiner gesamten Masse nötig ist. Der Ozean, im "ruhigen Gefühl" seiner "ewigen Macht" eine "erhabene Oberfläche" bildend, ist gleichzeitig eine Metapher des unendlichen Lebensstroms, dessen an- und abschwellende Wogen, vom "melancholischen Geräusch des Schaumes begleitet, der sich auflöst, um uns zu sagen, daß alles Schaum ist", das Sterben der Menschenwesen versinnbildlichen.

 

Rainer Wölzl hat keine Illustration der "Chants de Maldoror" gegeben, er hält sich auch nicht prinzipiell an die dort episodenhaft erzählte Abfolge des Geschehens. Sein Zyklus folgt einer anderen ästhetischen Gesetzlichkeit, die von der persönlichen Begegnung mit dem Text bestimmt und gewichtet ist. Daraus folgte eine Auswahl und Umreihung der aufeinanderfolgenden Leitmotive. Beim Lesen des Textes wurden die für den Künstler verwertbarsten bildmächtigen Passagen und Stellen am Textrand durch winzige Skizzen markiert. Im zweiten Arbeitsgang entstand nach der skizzierten Vorgabe und beim gleichzeitigen Abhören des auf Band gesprochenen Textes die endgültige Zeichnung. Die poetische Zündung zwischen dem Text und seiner zeichnerischen Interpretation folgte keiner anderen Ordnung als der "inneren Stimme", dem ästhetischen Gewissen des Interpretierenden selbst.

 

Trotzdem gibt es eine stimmungsmäßige Konkordanz zwischen dem romantischen Symbolismus des "élan vital" und dem barock-katholisch nachklingenden Gefühl für die Grenzüberschreitungen des Lebens, ein Sympathieverhältnis zwischen der Melancholie des ,,poète maudit" und der nekrophilen Sensibilität des Wieners für das unausweichliche Verfallen der Form. Beide haben eine Affinität zu Verwesung und Tod alles lebendigen Seins. Rainer Wölzl folgt sogar mit einigen Zeichnungen Lautréamonts Adoration der anorganischen, kristallinen Formen der Geometrie, deren körperlose Sprache von Dreieck, Kreis und Quadrat auch ein Äußerstes an Emotionsverlust, an Leblosigkeit bedeutet. Die schwarz-monochrome Tendenz in Wölzls Zeichnungen (wie auch der großen Lein­wandbilder) erinnert sinnbildlich an die unzertrennliche menschliche Einheit von Fruchtbarkeit und Tod. Mensch und Kosmos, Individuum und Welt, Ich und Es, Natur und Gott erscheinen wie bei Lautréamont in einem polarisierten Kraftfeld, das nicht harmonisch, sondern dissonant erlebt wird. "Vom großen bis zum kleinen hinunter, lebt jeder Mensch wie ein Wilder in seiner Höhle und geht selten hinaus, um seinen Mitmenschen zu besuchen, der wie er in einer anderen Höhle hockt. Die große universelle Menschheitsfamilie ist eine Utopie, der mittelmäßigsten Logik würdig." Die bei Lautréamont beschriebene Entfremdung des Menschen vom Menschen wird zum Ausgangspunkt einer totalen Rebellion gegen Schöpfung und Welt. Alle Begrenzungen zwischen Mensch und Universum, die Vernunft, Moral und Religion aufgerichtet haben, werden eingeebnet durch einen alle Gegensätze von gut und böse, schön und häßlich, Lebenslust und Lebensekel verbindenden automatischen Bilderstrom. Seine Freiheit schließt alle denkbaren Verbrechen und Abnormitäten ein. Absurditäten und groteske Montagen werden in den "Chants de Maldoror" lange vor den Surrealisten und heutigen Interpreten in aller Ausführlichkeit ausgebreitet.

 

Im ersten Gesang des Maldoror bringt Lautréamont die große philosophische Orientierungs-Achse zwischen dem endlichen und unendlichen Sein, in den späteren Gesängen zwischen Mensch und Gott, zum Wanken. Die Annäherung zwischen Maldoror, der sich ständig verändernden, wandlungsfähigen Gestalt, und dem immer sich selbst gleichbleibenden Ozean, "symbole de l'identité", nimmt im Verlauf der Gesänge immer monströsere und bedrohlichere Formen an, die zum Identitätsverlust des Individuums führen. Maldoror, das Individuum ohne Identität, der verkörperte Möglichkeitssinn, der sich in den "Strom des Bösen" wirft, um dem "unglücklichen Hermaphroditen" zu huldigen oder die "grauenhaft häßliche Paarung" mit der Haiin zu suchen, schließt seine Selbstvernichtung mit ein. Er sehnt sich zum indifferenten Ursprung der Schöpfung zurück. Das proteische Wesen Maldorors hat, wie Albert Camus erkannte, sein "Vaterland" im "alten Ozean", der "zugleich der Ort der Vernichtung und der Wiederversöhnung" ist. 33 Der Ort symbolisiert ein Doppeltes: die Angst vor der Auslöschung des Ichs in der rational unauslotbaren Tiefe des Ozeans, der auch das Es, den Triebpol der Persönlichkeit bedeuten kann. Sein alles verschlingendes "Maul ist furchtbar. Nach unten zu, in der Richtung des Unbekannten, muß es gewaltig sein." Der Ozean gewährt aber auch eine lustbesetzte, tröstende Empfindung der Ewigkeit, die Freud im Dialog mit Romain Rolland (über die eigentliche Quelle der Religiösität) als "ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt" beschrieben hat. 34

 

Das Geborgenheits- und Freiheitsgefühl, das das Eintauchen in eine Wahrnehmung "von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam "Ozeanischen" (Freud) dem Individuum gewähren kann, ist in der Kunst eine lang vertraute Erfahrung. Es steht seit Malewitschs frühen suprematistischen Bildern und dem Beginn des abstrakten Expressionismus eines Pollock oder den "Schwarzen Quadraten" Ad Reinhardts im Zentrum des künstlerischen Interesses für einen gegenstandslosen Bildausdruck.

Rainer Wölzl hat das ozeanische Unbegrenztheitsgefühl in aperspektivischen, zu horizontal und vertikal fließenden Streifen rhythmisierten Bildern zum Ausdruck gebracht. Sowohl die informelle wie die monochrome Tendenz in seiner Malerei verbindet sich mit dem ozeanischen Element. Auch die selteneren automatischen Zeichnungen, deren kreisende, wirbelnde, sich verknäuelnde Lineamente, angeregt von der bekannten Stelle im fünften Gesang über die Flugart der Starenzüge, schnell hingekritzelt sind, gehören dem ozeanischen Formenkreis an. In der sparsamen Kombination mit gegenständlichen Formen, dies kann ein Boot oder ein Tropfen im Ozean sein oder ein monströses Fruchtbarkeitsidol, kippt der abstrakte, ozeanische Gefühlsausdruck in seine symbolische Darstellung um.

 

Das "ozeanische Gefühl" ist aber ambivalent. Seine Präsenz in vielen halbabstrakten und monochromen Bildwerken der Moderne, die dynamischen schwarzen Flächen Wölzls eingeschlossen, kann auch die Gefahr zum Ausdruck bringen, die das Ich in der Verschmelzung mit dem Universum sieht. Das Gegenteil zum wandlungsfähigen, proteischen Individuum, das in der Identifizierung mit dem Unendlichen gegen das Hergebrachte revoltiert, ist der in seine Begrenztheit verliebte, völlig isolierte Höhlenmensch. Seine Aggressionen sind auf die eigene Person gerichtet. Lautréamont charakterisiert ihn als jemand, der nicht lachen kann und deshalb seine Lippen in selbstverletzender Manie mit dem Messer auseinanderschneidet. Diese Verzweiflungstat unterstreicht aber nur die menschliche Einsamkeit. "Einen Augenblick lang glaubte ich mein Ziel erreicht. In einem Spiegel betrachtete ich diesen durch eigenen Willen verletzten Mund! Es war ein Irrtum!" Nur der Lachende, den Helmuth Plessner als "fessellose Entladung überströmenden Gefühls" und "Sichloslassen in einem körperlichen Automatismus" beschrieben hat, "ist zur Welt geöffnet. Im Bewußtsein seiner Abgehobenheit und Entbundenheit, das sich häufig mit einem Gefühl der Überlegenheit verbinden kann, sucht sich der Mensch mit anderen eins zu wissen. Volle Entfaltung des Lachens gedeiht nur in Gemeinschaft mit Lachenden." 35

 

Vor dieser anthropologischen Folie erscheint Maldoror als psychopathologischer Grenzfall. An anderer Stelle bekennt er: "Ich habe nie lachen können, obwohl ich es mehrmals versucht habe. Es ist sehr schwer, lachen zu lernen. Oder ich glaube vielmehr, daß ein Gefühl von Ekel für diese Ungeheuerlichkeit ein wesentliches Merkmal meines Charakters ist." Doch dieses Ekelgefühl vor dem Lachen, das Rainer Wölzl in drei Bildnissen einzufangen versucht, wird sogleich objektiviert im Anblick einer grausamen Natur. "Natur! Natur! rief ich schluchzend, der Sperber zerreißt den Sperling, die Feige frißt den Esel, und der Bandwurm verschlingt den Menschen!" Hier wird die Grausamkeit beklagt, der Maldoror sonst ein Lob singt. Liebe und Haß, Lust- und Ekelgeftihle gegenüber der grausamen Natur existieren in seiner Psyche unvermittelt nebeneinander. Dieser Gefühlskonflikt in Gestalt einer Groteskkoppelung von Gegensätzen, die sich sonst ausschließen, wird in der Psychiatrie als "schizophrene Ambivalenz" (Eugen Bleuler) beschrieben. In den auf die "Chants de Maldoror" folgenden "Poésies" (die nur als Vorwort für ein zukünftiges Buch existieren), erfuhr die Ambivalenzkonstruktion, das Phänomen der simultanen Bejahung und Verneinung, eine systematische Erweiterung auf den Dualismus von Wahnsinn und Vernunft, die Polaritäten von böse und gut, Grausamkeit und Mitleid, Traum- und Wachzustand, Ernst und Lachen. Lautréamonts Widerruf der radikal bösen "Gesänge" war die literarische Krönung eines schon dort angelegten "schizophrenen" Selbstwiderspruchs.

 

Der Icherzähler des ersten Gesanges, der sich später als Maldoror demaskiert, eröffnet seine satanische Laufbahn mit einer Haßtirade auf die Menschen, die "zu jeder Stunde des Tages, von Kindheit auf bis zum höchsten Greisenalter, unglaubliche Flüche verbreitend, ohne Sinn für Gemeinschaft, wider alles, was atmet, wider sich selbst und die Vorsehung, Frauen und Kinder prostitutieren und so die Leibesteile entehren, die der Scham geweiht sind." Höhnisch wird Gott als erste Ursache und ewiger Sinngrund der mißratenen Schöpfung herausgefordert und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Lauf der Dinge angeklagt: "Zeige mir einen Menschen, der gut ist!" Und der schön ist! Das Bonum et Pulcherum des philosophischen Idealismus ist in der Zustandsbeschreibung von Schöpfung und Welt durch die "Gesänge des Maldoror" außer Kraft gesetzt. Handlungen, die die menschliche Scham absichtlich verletzen, werden in der romantischen "Aesthetik des Häßlichen" von Rosenkranz (1853) obszön genannt. Und im Lob des Obszönen, Häßlichen und Schlechten gipfelt die nihilistische Revolte Maldorors gegenüber Schöpfung und Welt.

 

Rainer Wölzl hat das imaginäre Portrait des revoltierenden Menschen, der nicht lachen kann und seine aggressive Verzweiflung gegen Gott, Welt und sich selbst wendet, gegenständlich-figurativ gezeichnet. Er zeigt keine phantastische Traum- und Phantasiewelt, sondern die Wirklichkeit. Wie alle seine Gegenbilder zur ozeanischen Verschmelzungsphantasie symbolisiert sein Menschenbild Begrenztheit und Isolierung - auch im Medium eines eingeschränkten, annähernd realistischen Darstellungsstils, häufig sogar in der Rückkehr zu einem perspektivisch gegebenen Raum. Realismus, Figuration, Perspektive auf der einen und Informel, abstrakter Expressionismus, monochrome Malerei auf der anderen Seite sind als zweiseitiger Ausdruck für menschliche Begrenztheit und Grenzüberschreitung eingesetzt. Der Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Determiniertheit und Freiheit geht mitten durch den Menschen, entzweit ihn. Im Nebeneinander von gegenständlicher und abstrakter Darstellung, in vielen Zwillingsformen, Vexierbildern und Zerstückelungsphantasien wird die Krise der menschlichen Identität anschaulich, ja peinlich und verletzend gegenwärtig. Der determinierte Mensch der Zivilisation erscheint sinnbildlich als Gedärm, Eingeweide, Exkrement, Sperma, Schmutz und immer wieder als fragmentierter, gerasterter, gekreuzigter, sadomasochistischer Körper.

 

Maldoror ist auch in der Version Wölzls der Exponent einer dissoziierten Persönlichkeit, dessen ambivalente Menschen- und Tiergestalt allen möglichen Verwandlungen unterliegt. Die Abgrenzung des Ichs gegenüber anderen Lebewesen, Sachen und sogar Begriffen (die allgeorisch dargestellt werden) kann sich verwischen wie extrem in der Episode mit der Metamorphose eines blonden Haars in einen tollwütigen Stock, der - groß wie ein Mensch, biegsam wie ein Aal - in einem Zimmer herumgeht und mit beiden Enden riesige Löcher in die Wand schlägt. 36

 

So gut wie in ein Haar und einen Stock kann sich das aggressive Ich in einen Adler, Krebs, Hai oder eine Krake umformen. Lautréamont war ein Meister in der Handhabung des "schizophrenen Humors", der Depersonalisation des einheitlichen Ichs zu einem Pluralen Komplex sich bekämpfender Lebewesen. 37 Ein Extremfall an grotesker, protosurrealistischer Grenzverwischung zwischen Ich und Umgebung, Mensch und Tier, Angsttraum und Wirklichkeit, findet sich im (vor "schizophrenen" Ambivalenzen und Transformierungen der Persönlichkeit überbordenden) vierten Gesang. Die lange Passage, die mit der Selbstreflexion beginnt: "je suis sale - ich bin schmutzig", und dazu ein Konglomerat erschreckender Ekelbilder assoziiert, hat auch Rainer Wölzl herausgefordert.

 

"Die Läuse zerfressen mich. Die Schweine erbrechen sich bei meinem Anblick. Der Schorf und der Aussatz der Lepra haben meine von gelblichem Eiter bedeckte Haut in Schuppen verwandelt ... Auf einem unförmigen Möbelstück sitzend, habe ich meine Gliedmaßen seit vier Jahrhunderten nicht bewegt. Meine Füße haben im Boden Wurzeln geschlagen und bilden bis zu meinem Leib eine Art von zäh wuchernder Vegetation, voll von gemeinen Schmarotzern, noch nicht ganz Pflanze, aber auch nicht nicht mehr Fleisch. Doch mein Herz schlägt. Wie aber könnte es schlagen, wenn die Fäulnis und Ausdünstungen meines Leichnams (ich wage nicht, Körper zu sagen) es nicht reichlich ernährten? Unter meiner linken Achselhöhle hat eine Familie von Kröten Wohnung genommen ... Unter meiner rechten Achselhöhle lebt ein Chamäleon, das dauernd auf der Jagd nach ihnen ist, um nicht vor Hunger zu sterben ... Eine böse Viper hat mein Glied gefressen und sich an seinen Platz gesetzt ... 0! hätte ich mich mit meinen gelähmten Armen verteidigen können; ich glaube aber vielmehr, sie haben sich in Holzscheite verwandelt ... Zwei kleine Igel, die nicht mehr wachsen, haben einem Hund, der nicht nein sagte, das Innere meiner Hoden vorgeworfen: nachdem sie die Oberhaut sorgfälltig gewaschen hatten, nahmen sie drinnen Quartier. Der After ist von einer Krabbe versperrt worden; durch meine Schlaffheit ermutigt, bewacht sie den Eingang mit ihren Scheren und tut mir sehr weh!"

 

Schon Tristan Tzara sah mit Lautréamont "den Berührungspunkt überschritten, der die Schöpfung vom Wahnsinn trennt. Die Schöpfung ist für ihn schon Mittelmäßigkeit." 38 Während man den Verrücktheiten der Künstler überall vorwurfsvoll Wirklichkeit und Normalität entgegenhält, wagte Lautréamont, sie direkt zu bekämpfen. Der Wille zu ihrer Vernichtung war der Kern seiner Revolte und erhob das Verbrechen zu einer ebenso lustvollen wie heiligen Handlung. Mit dieser noch dadaistisch zu nennenden Lesart der "Chants de Maldoror", für die Lautrémont und viele Surrealisten mit ihrer gesuchten Darstellung des Konvulsivischen, Ekelhaften und Gewaltförmigen alle Schleusen der Zensur geöffnet hatten, können wir uns heute nicht mehr zufrieden geben. Die Provokationen der Anti-Kunst haben Erfolg gehabt und mehr als das. Das reale Leben, der Wahnsinn des Alltags, hat die ästhetische Verletzung der Vernunft, Moral, Scham und des "guten Geschmacks" eingeholt und zynisch übertroffen. Die grausamsten Gewaltphantasien der "schwarzen Poeten" sind nichts im Vergleich zur vergesellschafteten Aggression. Wer könnte Lautréamonts Ästhetik des Bösen als Antithese zum Weltzustand noch ernst nehmen? Auch das Konzept der Wunscherfüllung, die Opposition gegen kulturelle und religiöse Triebverdrängung haben an Glanz verloren angesichts der normalen Triebentfesselung unterm Realitätsprinzip.

 

Sollen Lautréamonts "Gesänge" einen Gebrauchswert, eine elementare lebenswichtige Funktion für den Leser erhalten, wie es Elisabeth Lenk in der modernen traumartigen Literatur für gegeben ansieht, müssen wir eine Umorientierung bei uns selbst vornehmen. Der Text wäre daraufhin zu lesen, was er an aggressiver Kapazität sichtbar macht und nicht mehr im Hinblick darauf, was er als ein Versprechen auf Glück und an privater Wunscherfüllung heute noch hergibt. Zu entdecken wäre ein Auch-Aufklärungstext und nicht nur eine höhere künstlerische Form der sadomasochistischen Befriedigung, die übliche Lesart. Die "Gesänge des Maldoror" sind phantastisch, in surrealistischer Redeweise "wunderbar" wie im Traum und schizophrenieartig gedichtet. Ihre Sprache ist ein "Dialekt", dessen Artikulation von den Brennpunkten des Traums und des Wahnsinns ausstrahlt und nicht von der Hochsprache der Vernunft her erfolgt. Dies hindert uns nicht, die Grausamkeiten der "Gesänge" für wirklich zu halten, sie als wachtraum- und schlzophrenieartige Chiffrierung eines realen Kriegszustandes zwischen den Menschen zu erkennen.

 

Die Begegnung mit dem gezeichneten Maldoror-Zyklus Rainer Wölzls weist das Nachdenken in die gleiche Richtung. Das Phantastische der Vorlage wird nicht abgeschildert, 39 sondern erscheint, unterstützt von einer teils realistischen, teils abstrakten Darstellungsweise, in vielfachen desillusionierenden Brechungen, die ein selbständiges Mitreflektieren und zeithistorisches Aktualisieren des gewöhnlich für romantisch gehaltenen Textes erlauben. Das affirmative Mitgenießen, das hedonistische Sehen der sadomasochistischen Phantasmen wird nicht verhindert, dies erweist schon die kulinarische Praxis einer Malerei mit pulverisierter Kohle, aber gleichzeitig bleibt alle Darstellungslust transparent auf eine reale, nicht literarische Dimension des Leidens und der Gewalt. Die Verharmlosung durch eine Ästhetik des Dämonischen und Unheimlichen wird gesehen, häufig genug zieht sich der Zeichner in monochromes Verschweigen und die ozeanischen Bildräume der Abstraktion zurück. Gleichwohl kann kein Bild der Wollust, das noch etwas mitteilt, seinen Gegenstand völlig ausmerzen.

 

Den "Wonnen der Grausamkeit" bei Lautréamont steht das Leiden an der zugleich faszinierenden Grausamkeit bei Wölzl gegenüber. Er zeichnet den menschlichen Körper in Wollust und Schmerz, Eros und Tod heillos auseinandergerissen, utopielos, und ist darin Lautréamont verwandter als es die Doktrin Bretons war, der in der alle Gegensätze zusammenführenden "surréalité" ("une sorte de réalité absolue") ein letzlich ganzheitliches, heilendes Weltbild antizipierte. Diese Therapie kann und will Wölzl der Welt nicht verordnen. Er ist ihr Märtyrer und Diagnostiker ohne religiöses Sendungsbewußtsein. Er liest die protosurrealistischen Phantasien des Bösen, die sarkastische Übertretung der Gesetze, die sich in einer langen Traditionslinie von de Sade über die "poètes maudits" bis zu Bataille, Artaud, Bunuel und Dali erstrecken, wie einen realistischen, zeitbezogenen Text, zu Recht, nachdem die Wirklichkeit die grausamsten Erfindungen der Schwarzen Poesie überholt hat. Die romantische Dämonisierung des Bösen ist bißlos geworden, sie ist ihrer ästhetischen Faszination beraubt, seitdem das Unvorstellbare möglich, das "Wunderbare" alltäglich geworden ist, die surrealistischen "Kräfte des Rausches" (Walter Benjamin) nicht der Revolution, sondern der Depression zugute gekommen sind. Auf Begeisterung ist Ernüchterung gefolgt, ein Prozeß der intellektuellen Distanzierung, der auch die erotische Verführungskraft der "Gesänge" geschwächt hat, nachdem ihre konvulsivischen Traum- und Wahnbilder nicht mehr geheime Wünsche zu erfüllen versprechen, sondern nach erneuter Durchleuchtung reale Ängste widerspiegeln und unser ungelebtes Leben zur Schau stellen. Der einstige surrealistische Kult der Wiederkehr des Verdrängten wird in der alles simulieren könnenden Kultur der Postmoderne ohne Erstaunen und ohne Widerstand aufgenommen. Die Dialektik von gut und böse, Ich und Es, kontrollierender Vernunft und psychischem Automatismus an der Grenze zum Psychotischen, hat sich um eine Windung weitergedreht. Die Befreiung kann heute nicht mehr nur aus der Entdeckung des Unbewußten und seines bedrohlichen Verdrängungspotentials kommen, nicht länger aus einer einfachen rhetorischen Demontage der Vernunft und ihrer Institutionen, sondern die Kritik und Kontrolle ihrer Funktionalisierung für die Kräfte des Es, der unbewußten Destruktion sind das Gebot der Stunde. Dieses anzumahnen, könnte die lebenswichtigste, wenn man will, revoltierende Aufgabe der Kunst in der Nachfolge von Lautréamont und seiner surrealistischen Adepten heute sein. Lautréamont und die Surrealisten dachten weitgehend noch in einfachen, überschaubaren Gegensätzen und Interessenskonflikten von gut und böse, Traum und Wirklichkeit, Unbewußtem und Bewußtsein, Intuition und Intellekt, die heute auf andere Weise - als es die surrealistische Revolte projektierte - verbündet sind und für die Ausbeutung der Menschen und ihres Planeten wirken.

Peter GORSEN , Wien 1992
(Rainer Wölzl. Lautréamont. Die Gesänge des Maldoror. Picus Verlag, Wien, 1992)

 

1 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek 1968, S. 26
2 Maurice Blanchot: Lautréamont. In: Lautréamont, Das Gesamtwerk, Aus dem Französischen mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Ré Soupault. Zusätzlich mit Marginalien anderer Autoren, Reinbek 1963, S. 233
3 Jean Starobinski: Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt a. M. 1973, S. 152
4 Breton: Manifeste, a.a.O., S. 24
5 Peter Bürger: Der französische Surrealismus, Frankfturt a. M. 1971, S. 154, 158
6 Ebd.
7 A. a. 0., S. 164
8 Michel Carrouges: Gebrauchsanweisung, In: Junggesellenmaschinen, hg.v. Harald Szeemann, Kat. d. Biennale Venedig 1975, S. 36
9 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1953, S. 96f
10 Breton in seinem Vorwort zum Werk Lautréamonts. In: Lautréamont, Das Gesamtwerk, a. a. 0., S. 246
11 Breton: Qu' est-ce que le surréalisme? In: Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus, Reinbek 1965, S. 13
12 Breton, Manifeste, a. a. 0., S. 36
13 Gisela Steinwachs: Mythologie des Surrealismus oder"Die Rückverwandlung von Kultur in Natur", Neuwied-Berlin 1971, S. 39
14 Diese in den "Poésies" formulierte Erkenntnis findet sich schon im "Dictionnaire Abrdgé du Surréalisme" von 1938 und wird bis heute als gedankliches Eigentum des Surrealismus vertreten. Vgl. Marcel Jean: Autobiographie du Surréalisme, Paris 1978, S. 70
15 Breton, Manifeste, a. a. 0., S. 18
16 Elisabeth Lenk: Die unbewußte Gesellschaft. Ober die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983, S.259
17 A. a. 0., S. 260
18 Dieter Wyss: Der Surrealismus. Eine Einführung und Deutung surrealistischer Literatur und Malerei, Heidelberg 1950, S. 24
19 René Magritte: Sämtliche Schriften, München-Wien 1981, s. 539
20 Lenk, a. a. 0., S. 259
21 Dictionnaire général du Surréalisme et de ses environs, hg.v. Adam Biro und René Passeron, Fribourg 1982, S. 290
22 La Revolution Surréaliste, No. 3, 15. April 1925, S. 27
23 Zitat nach William S. Rubin: Dada und Surrealismus, Stuttgart 1972, S. 154
24 Das Gesamtwerk Lautréamonts lernte er schon 1922 kennen. Den "Chants de Maldoror" begegnete er zwei Jahre später wieder im "Bureau de Recherches surréalistes", wo der Band neben einer französischen Übersetzung von Freuds "Einführung in die Psychoanalyse" und dem phantastischen Fortsetzungsroman "Fantomas" von Emile Souvestre und Marcel Allain (1911-14) auslag. Masson, zuerst unter Schockwirkung des spanischen Bürgerkriegs, später des Zweiten Weltkriegs stehend, verstand das "prachtvolle Bestiaire" der Gesänge mit ihren Mensch-Tier-Vergleichen in erster Linie gesellschaftssatirisch. Maldoror erscheint in Zeichnungen und Lithographien als "übermenschlicher Abdecker" (Michel Leiris) und "Bete industrielle" (Massen) der menschlichen Zivilisation, was auch bei Gaston Bachelard in seinem Essay "Le bestiaire de Lautréamont" (1939) thematisiert wird und Masson beeinflußt hat. André Masson: Le rebelle du surréalisme, Écrits, Édition étabile par Francoise Will-Levaillant, Paris 1976, S. 31, 58f, 67f 94. Michel Leiris: Bacon, Picasso, Masson, hg. v. Hans Jürgen Heinrichs, Frankfurt a. M. und Paris 1982, S. 72
25 Lenk, a. a. 0., S. 260
26 Lautréamont. Das Gesamtwerk. Überarbeitete Neuausgabe. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort v. Ré Soupault,
Reinbek 1988, S. 169f> 100f
27 Ebd.
28 Man Ray: Das Zeitalter des Lichts (1934). In: Man Ray. Inventionen und Interpretationen. Ausstellungskatalog d. Frankfurter Kunstvereins 1979, S. 37
29 Max Ernst: Biographische Notizen (Wahrheitsgewebe und Lügengewebe). In: Max Ernst. Retrospektive 1979, Kat. hg. v. Werner Spies, München 1979, S. 135. Frühe Fassungen in: "Au delà de la Peinture", Cahiers d'Art 1937, "Beyond Painting", New York 1948
30 Max Ernst: Was ist Surrealismus? In: Karlheinz Barck (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch. Reclam Verlag Leipzig 1990, S.617
31 Ernst Robert Curtius: Indezente und laszive Bücher. In: Lautréamont. Das Gesamtwerk, 1963, a. a. 0., S. 245
32 Zwanzig Gouachen zum Thema waren erstmals veröffentlicht in der Ausgabe des Regnet und Bernhard-Verlages: Comte de Lautréamont (Isidore Ducasse), Die Gesänge des Maldoror, München 1976
33 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays, Hamburg 1953, S. 89
34 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesammelte Werke, XIV. Band, S. Fischer Verlag, S. 422
35 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, München 1950, S. 95, 152, 195
36 Diese von Artaud geliebte Stelle hat er in seinem Brief über Lautréamont eigens nacherzählt in: Artaud, Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und andere Texte und Briefe über Baudelaire, Coleridge, Lautréamont und Gérard de Nerval, München 1977, S. 82f
37 Vgl. die Ausführungen von Jean-Pierre Soulier: Lautréamont, Génie ou maladie mentale, Genève, 1964, S. 27-42
38 Tristan Tzara: Note sur le Comte de Lautréamont ou le cri, aus: Littérature, Nouvelle Serie Nr. 1, Paris März 1922. Übersetzt von Holger Fock in: Das Geheimnis des unglaublichen Comte de Lautréamont. Mit Beiträgen von 15 Autoren, Berlin 1982, S. 36
39 Wölzl entspricht nicht dem Klischee des surrealistischen Traummalers, weder in einem veristisch-naturalistischen, noch abstrakt-automatistischen Sinn. Ausnahmsweise zitiert er de Chiricos unwirkliche Architekturkulisse mit einer Figur, die einen langen silhouettenhaften Schatten auf den Platz wirft, ein auch bei Lautréamont zu findendes gespenstisches Moment der ruinösen Stadt. Ein einziges Mal wird an Giacometti erinnert, dessen "Tisch" mit den vier ungleichen Beinen in der Pariser Breton-Austellung kürzlich zu sehen war. Dieses Werk gilt durch seinen Magritte-Bezug noch als späte Huldigung an den Surrealismus. (Vgl. Victor j. Stoichita: Die Hand, die Leere. In: Axel Matthes (Hg.), Louis Aragon mit anderen. Wege zu Giacometti, München 1987, S. 82) Wölzl hat den Tisch auf das aggressive, "phallische" Emblem eines einzigen Beins reduziert und es mit einem Fetzen, der fragmentarisch an die zu Tisch sitzende Kleiderpuppe bei Giacometti erinnert, kombiniert. Die neue Groteskmontage läßt an eine Projektion des zerreißenden, sadistischen Blicks denken, der Maldorors Sexualität auszeichnet. Die Anregung durch surrealistische Kunst bleibt bei Wölzl im wesentlichen auf Methodisches beschränkt, auf den sparsamen Gebrauch des schon erwähnten psychischen Automatismus und eine passive Inspiration, die im Reagieren auf Bildvorlagen wie bei der Übermalung produktiv wird und schon von Max Ernst in jeder Hinsicht ausgereizt wurde. Die von Wölzl benutzten Vorlagen sind (zahn)-medizinischen, anatomischen Ansichtswerken, Logarithmentafeln und Druckseiten entnommen. Sie bewirken einen pseudodokumentarischen Effekt, der durch Überzeichnen und Übermalen wieder destruiert wird. Durch teilweises Stehenlassen der Vorlagen ergeben sich collageartige Wirkungen.